Muslimisches Zentrum mitten in Russland: Der uralte Zauber von Bolgar

Reise
ROBERT WILLARD
Sie kennen Bulgarien, aber nicht seinen uralten, unbekannten und geheimnisvollen Namensvetter.

Ein malerisches slawisches Land an der südlichen Spitze des Balkans, berühmt für seine Strände, Rosen und Skigebiete. Daran denken Sie wahrscheinlich zuerst, wenn Sie „Bulgarien“ hören.

Aber kennen Sie das andere Bulgarien? Das mitten in Russland?

Tatsächlich hat die bulgarische Nation einen weniger bekannten Vetter im Hinterland der autonomen Republik Tatarstan: Bolgar. Obgleich weniger geläufig, hat Bolgar eine ebenso facettenreiche Geschichte, denn sie ist eine der ältesten Städte Russlands.

Die Protobulgaren: Kubrat und seine fünf Söhne

Lange vor den Mongolen war die eurasische Steppe beherrscht von einem anderen großen türkischen Reich, dem der Protobulgaren, deren Staat sich um das Asowsche Meer konzentrierte, also auf heutigem russischen und ukrainischen Gebiet. Bekannt dafür, in der Staatsbildung ebenso geschickt zu sein wie in der Kriegsführung, errichteten sie mächtige Steinfestungen überall dort, wo sie hinkamen. Unter dem legendären Khan Kubrat dehnte sich das Reich der Protobulgaren so weit aus, dass sie große Teile der Küste des Schwarzen Meeres kontrollierten.

Nach dem Tod Kubrats beschlossen seine fünf Söhne jedoch, getrennte Wege zu gehen und jeder machte sich in eine andere Richtung auf, um seinen eigenen Staat zu führen. Die zwei erfolgreichsten waren Asparuh, der das Bulgarien gründete, das wir heute kennen, und Kotrag, der an der Wolga entlang in den Norden wanderte.

Renaissance an der Wolga

Letztendlich ließen sich Kotrags Bulgaren auf einem schönen Stück Land an der Wolga nieder und gründeten die große Stadt Bolgar, eine wahre eurasische Metropole. Nach einigen Feldzügen gegen ihre Nachbarn errichteten die Wolgabulgaren, wie sie nun genannt wurden, ein gewaltiges Reich im Herzen Russlands.

Im Jahr 922 konvertierte der Herrscher Aydai Khan zum Islam und investierte in den Bau von Koranschulen und Moscheen. Währenddessen wurde sein Staat ein wichtiger Zwischenhändler auf der Seidenstraße. Grabsteine zeugen von einem großen jüdischen und armenischen Viertel, und Reisende wie Ibn Fadlān huldigten der großen Bedeutung, die der Khan der Bildung beimaß. Bolgar war das Zentrum islamischer Zivilisation in Osteuropa geworden.

Wir springen in die Zeit der Mongolen und Russen, und noch immer ist Bolgar ein wichtiger Ort in Russland. In einer ruhigen Beugung der Wolga liegend umfasst die Stadt Steinfestungen, Moscheen und Grabstätten, die von einem starken Staat mit fähigen Steinmetzen zeugen.

Diese Überreste von Wolgabulgarien werden als der Ursprung aller Muslime betrachtet, die heute entlang der Wolga leben, besonders der Tataren und Baschkiren. Einmal im Jahr besuchen sie Bolgar in einer religiösen Pilgerreise bekannt als „Kleine Hadsch“. Bis heute verstehen sich viele Tataren hauptsächlich und zuallererst als Bulgaren.

Nationale Bedeutung

Bolgar ist ein offizielles UNESCO-Weltkulturerbe, das als wesentlicher Teil der Geschichte der russischen Nation anerkannt wird. In der Tat war Bolgar das erste geschützte Weltkulturerbe in ganz Russland.

Im Juli 1722 ordnete Peter der Große persönlich an, der Gouverneur von Tatarstan möge den Ort instand setzen: „Herr Gouverneur! Während unseres Aufenthalts in Bolgar sahen wir, dass die alten bolgarischen Glockentürme Ruinen sind, und sie müssen wieder aufgebaut werden. Beauftrage dazu nun zwölf oder 15 Steinmetze.“

Tatsache ist: Vor dem Winterpalast, dem Kreml oder Nowgorod gab es Bolgar, die Heimat einer geheimnisvollen Zivilisation, die einst Osteuropa dominierte.

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Was Sie sich in Bolgar ansehen sollten

Am besten erreichen Sie Bolgar von Kasan aus. Tragflügelboote fahren täglich entlang der idyllischen Wolga dorthin. Der historische Ort liegt günstig an der Wolga mit einem kleinen Hafen und einem Archäologiemuseum.

Die meisten der Ruinen, die in Bolgar zurückgeblieben sind, stammen aus der Zeit, als es der Goldenen Horde als Hauptstadt diente. Mausoleen, Paläste, Moscheen und orthodoxe Kirchen sind auf dem Gelände verstreut. Besuchen Sie unbedingt die Moschee-Kathedrale, die Schwarze Kammer und das Ost-Mausoleum, die 700-Jahre-alte Grabkammer des bolgarischen Adels. Außerdem sollten Sie sich die Überreste des mächtigen Khan-Palastes und den versteckten Brunnen von Gabdrakhman nicht entgehen lassen, dessen Wasser heilende Kräfte haben soll.

Die neueren Bauten von Bolgar sind nicht weniger beeindruckend. Das „Gedenkzeichen“, ein Schrein für den Übergang zum Islam, beherbergt den größten gedruckten Koran der Welt. Das Buch wiegt 500 Kilogramm! Die riesige Weiße Moschee ist eine rekonstruierte Antwort auf den uralten Vorgänger, der im 15. Jahrhundert zerstört wurde. Der weitläufige Komplex ist ein wahres Juwel tatarischer Architektur.

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