Die Moskauer Metropole einmal gegen Provinzkirchen, Holzhütten und Ruhe eintauschen (FOTOS)

Erwann Pensec
Wenn einem die Hektik der russischen Hauptstadt mal zu Kopf steigt, hilft manchmal nur noch der Weg zum nächsten Bahnsteig - ab und davon! Zumindest konnte ich so in ruhigere Ecken fliehen.

Moskau ist eine weltoffene Megalopolis (Megaregion), so dass es manchmal notwendig ist, ihr auf der Suche nach etwas Ruhe zu entkommen. Da ich seit mehreren Jahren in der russischen Hauptstadt lebe, habe ich mir inzwischen angewöhnt, sie mehrmals im Jahr zu verlassen: sei es in die buddhistischen Gebiete Burjatiens, in die Steilberge Nordossetiens oder in die eisigen Weiten der Arktis. Auf dieser ständigen Suche nach dem Ungewöhnlichen habe ich jedoch die Regionen in der Nähe von Moskau immer vernachlässigt, weil ich sie von vornherein als „nicht exotisch genug“ einschätzte! Also beschloss ich diesmal, einige der nahen gelegenen mittelalterlichen Städte zu entdecken.

Erster Halt: Der alte Kreml von Rostow und die bunten Isbas (traditionell slawische Landwohnungen)

Rostow ist eine der ältesten Städte Zentralrusslands und wurde im Jahr 862 gegründet. Die kleine Stadt mit rund 30.000 Einwohnern liegt etwa 186 km nordöstlich von Moskau. Der im sowjetischen Stil gehaltene und nicht sehr ansprechende Bahnhof spiegelt nicht die Pracht wider, die dich unweit vom Bahnhofsgelände in die Ferne zieht.

Das Zentrum lässt kaum einen Zweifel am Reichtum seines Kulturguts aufkommen: Von den Dächern einer Reihe niedriger, farbiger Gebäude ragen gigantische silberne Zwiebeltürme aus dem Hintergrund heraus. Vom neu renovierten Stadtplatz aus kann man den beeindruckenden Kreml bewundern. Die imposante Festungsanlage mit ihren weißen Mauern und den verschieden geformten Türmen begeistert allein schon durch ihre Größe.

Die umliegenden Gebäude - im Gegensatz zu den heutigen Geschäften mit ihren Schaufensterfronten - stammen noch  aus dem  letzten Jahrtausend und sind somit Spiegelbild dieser ehemaligen prachtvollen Fürstenstadt. Mit Hilfe von durch Schnitzereien verzierten Giebeln, Arkaden mit kräftigen Säulen und herrliche Kirchen ist die Stadt reich an beeindruckenden Überresten, die viel über ihren einstigen Ruhm aussagen.

An diesen ersten schönen Frühlingstagen erwacht die Stadt nach einem langen Winterschlaf allmählich zum Leben. Während die einheimische Bevölkerung die Freude an Aktivitäten im Freien wiederentdeckt, befreit sich der Nerosee, an dessen Ufer sich Rostow erstreckt, innerhalb eines Tages von der brüchigen Eisschicht, die ihn noch am Tag meiner Ankunft bedeckte.

Während ich die Stadt von der Spitze ihres hohen Glockenturms aus betrachte oder in der Ferne das Kloster am gegenüberliegenden Ufer erblicke, bewundere ich die farbenfrohen Isbas (traditionelle slawische Landhäuser) mit ihren fein geschnitzten Fensterrahmen - man scheint hier regelrecht den Sinn des Lebens zu finden, nämlich die bewusste Freude am Hier und Jetzt.

>>> Von der Isba zum Iglu: Sieben traditionelle russische Behausungen

Jaroslawl, ein mittelalterliches Juwel, bezaubert mit seiner Idylle 

Meine Reise führt mich dann nach Jaroslawl (282 km von Moskau entfernt), der majestätischen "Hauptstadt" der typischen Touristenstrecke des Goldenen Rings. Dort leben etwa 600.000 Menschen.

Wenn ich mit dem Trolleybus vom Bahnhof ins Stadtzentrum fahre, erhasche ich einen Blick auf breite Alleen mit Einkaufszentren und anderen riesigen Gebäuden, die voller Menschenmassen sind. Als ich in der tiefen Nacht in meiner Unterkunft nahe dem Wolga-Ufer einchecke, bin ich ein wenig skeptisch. Was, wenn das noch so eine laute, hektische Stadt ist?

Am nächsten Morgen sind meine Zweifel allerdings schnell verflogen. Beim Erkunden des historischen Zentrums, das von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde, komme ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Im Gegensatz zu anderen russischen Städten beschränkt sich die Hektik der Menschen lediglich auf die Außenbezirke der Stadt, während sich das Zentrum aufgrund von fehlendem starkem Autoverkehr und Lärmbelästigung, eher durch die Trägheit der Passanten und der großen Fußgänger- und Grünflächen auszeichnet.

Wenn ich durch die belebten Straßen schlendere und mich von der Vielzahl der Kathedralen, Kapellen und Denkmäler aus einer anderen Zeit verzaubern lasse, stelle ich mir vor, wie schön es doch sein könnte, in dieser Stadt zu leben Sie ist nur drei Zugstunden von Moskau entfernt und  mit allen Bequemlichkeiten unserer Zeit ausgestattet. Und dennoch hat sie es geschafft, sich ihre kostbare, innere Ruhe zu bewahren.

Der einstige Wohlstand dieses ehemaligen Handels- und Handwerkszentrums ist auch heute noch zu spüren. Sogar eine Filiale des berühmten und angesehenen Feinkostladens Jelissejew ist hier noch anzutreffen. Die Filiale ist bekannt für das luxuriös ausgestattete Interieur und die noble Außenfassade, die einem direkt ins Auge fällt.

Wologda, seine hölzerne Majestät

An einem nebligen Morgen setze ich meine Entdeckungsreise 180 km weiter nördlich von Jaroslaw in den Stadtbezirken von Wologda fort. Die Stadt ist für ihre Butter und ihren Spitzenstoff bekannt. Sie ist die Hauptstadt einer Region, die aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit besonders moorig ist, aber auch über ein außergewöhnliches Kulturgut verfügt, das im Laufe der Jahrhunderte durch dieses naturgegebene Hindernis vor feindlichen Angriffen geschützt wurde.

Nachdem ich eine gepflasterte Brücke überquert habe, die mit einer merkwürdigen digitalen Anzeigetafel ausgestattet ist, die den Grad der Radioaktivität in der Umgebung anzeigt, bietet sich mir ein atemberaubender Anblick. Umgeben von hohen dicken weißen Mauern erscheint der Kreml von Wologda vor mir. Ich umgehe den Vorplatz, um den Eingang zu erreichen, als die Schönheit des Ganzen mich überwältigt. Ein eleganter architektonischer Baukomplex in Pastelltönen breitet sich vor mir aus.

Was die 300.000-Einwohner-Stadt, die Mitte des 12. Jahrhunderts gegründet wurde, aber so berühmt macht, sind die unzähligen Holzhäuser. Einige von ihnen, die mit Fensterrahmen, Zäunen und anderen kunstvoll geschnitzten Elementen verziert sind, scheinen das Werk eines ganzen Zeitalters zu sein. Diese Art von Kunst ist keineswegs in Vergessenheit geraten, sondern erlebt sogar ein erneutes Aufblühen, wenn man bedenkt, dass in den umliegenden Gebieten zahlreiche Renovierungsarbeiten und sogar Baustellen im Gange sind.

Auf einer Fensterbank liegt eine rote Katze und beobachtet Spaziergänger, die, wie ich, ihren Rundgang trotz des Nieselregens und der eisigen Kälte genießen. Während die einen die unersättlichen Tauben füttern, betrachten die anderen verträumt die stillen, sich dahinschlängelnden Wildufer.

Als ich mich schließlich in die Wärme eines Cafés zurückziehe, das sich vor seinen Konkurrenten in Moskau nicht verstecken muss, stelle ich fest, dass selbst der Regen, der jetzt auf die Straße prasselt, die einheimische Bevölkerung nicht aus der Ruhe bringen kann.

In Welikij Nowgorod fühlt sich die russische Seele wohl

Die letzte Station meiner Reise ist Welikij Nowgorod, die Hauptstadt eines alten Staates, der einst (von 1136 bis 1478) ein riesiges Gebiet im Norden des heutigen Russlands, von der Ostsee bis zum Ural, beherrschte. Zu dieser Zeit war die Stadt Mitglied der Hanse, einer Vereinigung von Handelsstädten in Nordeuropa, zu der unter anderem auch Hamburg, Danzig, Stockholm, Brügge und London gehörten.

Von dieser Macht zeugen noch heute der von einem tiefen Wassergraben umgebene Kreml und das Geschäftsviertel mit seinen Arkaden und zahlreichen jahrhundertalten Gebäuden. Der hohe Status dieser Stadt spiegelt sich auch in ihren weißen Kathedralen und Kirchen wider, die zu den ältesten des Landes gehören.

Doch während ein Akkordeonspieler mit seiner Musik die Umgebung unterhält und junge Leute am Sandstrand entlang der Festung mit dem Ball spielen, bereitet mir diese wie einem Gemälde entnommene Lebendigkeit ein mulmiges Gefühl. Entfernt man sich von dieser ausstellungsreifen und lebhaften Stadtmitte Richtung Stadtrand, wandern nur noch wenige Menschen umher und es ist und bleibt auch trotz seiner 225.000 Einwohner eine träge, fast leblose Stadt, die sich dort auch dementsprechend präsentiert.

Auf den menschenleeren Straßen und Plätzen herrscht große Stille. Die Lebhaftigkeit scheint stehen geblieben zu sein. Zum ersten Mal glaube ich, jenes Gefühl zu verspüren, das so klischeehaft für Russland ist - die "toska", die nostalgische Sehnsucht nach dem, was nicht geschehen ist und (wahrscheinlich) auch nicht geschehen wird.

>>> Verzweiflung auf Russisch: Was bedeutet „Toska“?

Die Morgendämmerung am nächsten Tag empfange ich schon am Moskauer Bahnhof - mit erstaunlicher Vorfreude. Obwohl es noch früh am Morgen ist, ist er schon voller Menschen. Das Gedränge in der U-Bahn, die Eile der einen, der Lärm der anderen... Kann es sein, dass ich das alles vermisst habe?

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