Hopfen und Malz gewonnen: Wird Russland eine Bier-Supermacht?

Wirtschaft
WIKTORIA RJABIKOWA
Einige brauen Bier im Kochtopf, andere wagen sich gleich an die Eröffnung einer eigenen Brauerei. Bier boomt in Russland.

Aus der kleinen Küche in einem grauen Hochhaus am Stadtrand von Moskau ertönt ein klirrendes Geräusch. Es ist 2 Uhr morgens. Ich verlasse das Schlafzimmer und beobachte die folgende Szene: Mein Freund gießt eine schmutzige braune Flüssigkeit aus einem alten 5-Liter-Topf in Plastikflaschen. Auf dem Tisch stehen Gläser und alte Lumpen, die mit der gleichen Flüssigkeit getränkt sind. Der Geruch ist, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig. 

„Ich braue gerade Bier, antwortet er auf meine Frage, als würde er das jede Nacht machen. 

Meine Frage „Warum?” löst Erstaunen bei ihm aus.

„Warum wohl? Wenn es gut ist, werde ich es auf Historien-Festivals verkaufen”, erklärt er und versucht Zuckerwürfel in die Bierflaschen zu stecken. 

„In einem Monat wird das Bier fertig sein. Dann eröffne ich eine eigene Bar. Das Geschäft wird boomen“, murmelt er vor sich hin und werkelt weiter. 

Aus dem Leben eines russischen Brauers  

Diese Geschichte, die sich vor zwei Jahren ereignete, ruft bei Wjatscheslaw Schagow, einem gutmütigen Mann in den Dreißigern und Inhaber der Schagow-Brauerei, nostalgische Gefühle hervor. „Einmal habe ich mir sogar ein Bierbrauset gekauft. Aber in der Tat braucht man nicht mehr als einen Topf. Das macht keinen Unterschied”, erklärt er.

Wir sitzen in der Bar, die seiner Brauerei angeschlossen ist. Der Innenraum ist holzgetäfelt und mit Fässern und Zapfhähnen dekoriert. Direkt gegenüber stehen hinter Glas im Verköstigungsraum riesige Fässer mit unterschiedlichen Biersorten. Schagow war ursprünglich im Wohnungsbau tätig und beschloss, eine Bar zu eröffnen, nachdem er in Europa Brauereien in historischen Gebäuden gesehen  hatte, die auch Verköstigungen und Besucherführungen im Programm hatten.

„In den 2000er Jahren sind einige bekannte Biersorten in Russland aufgetaucht, die meisten waren jedoch gefälscht. Da wurde nicht nach alten Rezepten gebraut. Es war einfach gewöhnliches Bier, das als etwas Besonderes verkauft wurde”, erzählt er.

Schagow besuchte in den folgenden Jahren verschiedene Hausbrauereien und Brauereiausstellungen. Dabei lernte er seinen Geschäftspartner kennen, der heute für die Qualität des Bieres verantwortlich ist. „Wir haben zunächst eine kleine Außenbar an einem See eröffnet, um uns erstmal mit allem vertraut zu machen. Danach haben wir im Zentrum von Ljuberzy eine 200 Quadratmeter große Bar aufgemacht. Wir haben einen teuren Kredit dafür aufnehmen müssen”, so Schagow.

Am Tag nach der Eröffnung schlug die Bürokratie zu. Eine Genehmigung der Stadtverwaltung fehlte und es sollte acht Monate dauern, bis Schagow sie erhielt.  

„Als wir die Brauerei eröffneten, erhielt ich am nächsten Tag ein Dokument mit einer Gerichtsentscheidung, dass das Gebäude abgerissen werden sollte. Wir haben zwei Jahre lang geklagt. Die übliche Routine“, beschreibt Schagow gelassen die typischen Probleme russischer Brauer.

Er sieht die Entwicklung der russischen Bierindustrie auch durch ständig steigende Verbrauchsteuern und die Erfordernis spezieller und kostspieliger Messgeräte, behindert.

In Russland müssen Brauereien, die mehr als 300.000 Dekaliter Bier pro Jahr produzieren, solche Geräte auf eigene Kosten anschaffen. Die Regierung plant jedoch, den Schwellenwert auf 100.000 und später sogar auf 50.000 Dekaliter zu senken, was vor allem kleinere Brauereien treffen würde, die sich diese Ausgaben nicht leisten können.

Schagow findet, dass sich Russland in Europa durch seine vielen Craft Beers und Läden, in denen Flaschenbier verkauft wird, auszeichne. Er rechnet damit, dass sich zukünftig viele Bars mit Brauereien zusammenschließen werden, um eigene Produkte zu entwickeln. Unter einer Voraussetzung:

„Wenn der Staat sich raushält, wird mit dem Bier alles in Ordnung sein”, sagt er fast flüsternd und fügt hinzu: „Es ist nur schade, dass meine Frau kein Bier trinkt.

Seminare für Bierliebhaber 

„Es ist unmöglich, Bier nicht zu mögen, es hat nur ein Imageproblem“, sagt Wladimir Korolew, Leiter des Ausbildungszentrums der Russischen Sommelier Liga und Leiter des Biersommelier-Kurses in Moskau, ein rund 30-jähriger sehr gepflegter Mann mit einem Bart wie frisch vom Barbier gestutzt.

„Wenn Sie ein schwereres Bier wie Stout mit einem Schokoladenmuffin oder einer Kugel Schokoladeneis servieren, wird es jeder lieben“, sagt er und leckt sich dabei fast die Lippen.

Alle zwei Wochen finden Kurse in Kleingruppen statt. Die meisten Teilnehmer kommen aus den russischen Regionen. Drei Tage bis zu einer Woche dauert so ein Biersommelier-Seminar.  Die Teilnehmer lernen, zwischen verschiedenen Biersorten zu unterscheiden und zu zeigen, dass Bier nicht dazu da ist, um sich damit zu betrinken oder als Durstlöscher, sondern dass es ein ästhetisches Genusserlebnis sein kann. 

Der Craft Beer Boom fing 2013/2014 in Moskau an, erzählt Korolew. Dies wurde durch Rezepte europäischer Hersteller und die Möglichkeit, alle notwendigen Zutaten zu importieren, vereinfacht. Nach fünf Jahren gibt es kaum noch Unterschiede zwischen russischer und europäischer Produktion, meint Korolew. 

Um aber international Furore zu machen, müssen russische Biere auch vermarktet werden wie zum Beispiel die Sorte „Saure Schtschi“, die als besondere Art von Kwas bezeichnet wurde.

„Wir haben alle notwendigen Ressourcen und Fähigkeiten. Die Brauer werden immer besser, das Wasser in Russland ist von guter Qualität, wir bauen Hopfen und Gerste an”, sagt Korolew und fügt hinzu, dass jede Branche, nicht nur das Brauwesen, von der Entwicklung der Wirtschaft im Allgemeinen abhänge. 

Bier ist nicht jedermanns Sache

Von Ende 2018 bis April 2019 stieg der Bieranteil im Segment der alkoholischen Getränke in Russland von 55,4% auf 64,2% (rus). Gleichzeitig blieb die Nachfrage nach Wodka bei rund 10%, berichtete „RIA Novosti” unter Berufung auf eine Studie des Online-Produktinformationsdienstes Rate & Goods. Die Russen kaufen Bier vor allem, weil es günstig ist, meint Roman Meister von Rate & Goods.

„Die Leute geben immer weniger für teure Getränke wie Whisky, Brandy und Wein aus. Bier ist ein Volksgetränk. Am 8. Mai gab es erstmals keine Steigerung beim Champagnerabsatz, obwohl dies nach Neujahr der Tag ist, an dem am meisten davon verkauft wird.“ 

Im November 2018 wurde der „Beru Wychodnoj“-Laden [zu Deutsch„Ich nehme einen Tag frei“] 200 Meter vom U-Bahnhof Rischskaja entfernt eröffnet, um Bier noch bekannter zu machen. Der Laden sieht von außen ganz gewöhnlich aus, doch im Inneren warten 3.000 Biersorten und dazu noch 200 Fassbiere. Inhaber Konstantin Schelagin erklärt (rus), dass einige Biere jahrelang reifen sollten, wie ein guter Wein. Dafür gibt es ein Spezialfass.  

Im Laden gibt es einen extra Raum für Präsentationen und Verkostungen. 

Am Eingang treffe ich eine etwa 40-jährige Frau mit blondem Haar. 

„Das Angebot ist hier so groß, das kann man in einem einzigen Leben gar nicht alles probieren”, sagt sie gut gelaunt und eilt mit einer Einkaufstasche ins Geschäft.  

Vor dem Hintergrund all dessen, was ich nun gesehen und gehört habe, entscheide ich mich, meinen mittlerweile Ex-Freund anzurufen. Vielleicht hat er bereits eine eigene Bar oder Brauerei oder eine Brauerei mit Bar eröffnet?

„Ja, aber alle haben sich beschwert, dass das Bier nach Essig geschmeckt hat. Es ist außerdem sehr teuer, eine eigene Bar zu eröffnen. Ich verdiene nur 50.000 Rubel (rund 710 Euro) pro Monat. Da hast Du Deinen Bier-Boom”, sagt er und legt auf. 

>>> Im Rausch der 90er: Aufstieg und Fall der russischen Bierliebhaber-Partei