Hansestadt Nowgorod: Wie deutsche Kaufleute zu den Handelspartnern der altrussischen Stadt wurden

Wirtschaft
ZHANNA NEYGEBAUER
Im Mittelalter war Nowgorod das Zentrum des Handels im Nordwesten Russlands. Durch Wasserstraßen mit der Ostsee verbunden, zog die Stadt ausländische Kaufleute an, die Verbindungen zum östlichen Markt suchten. Im 12. Jahrhundert waren die wichtigsten Partner der Nowgoroder Deutsche, die während ihrer Handelsreisen in speziellen Handelssiedlungen, dem so genannten Deutschen und Gotischen Hof, lebten.

Die Stadt Welikij Nowgorod, früher einfach Nowgorod genannt, war im Mittelalter das wichtigste Zentrum für Handwerk und Handel in Russland. Ausländische Kaufleute, die in Richtung Osten unterwegs waren, konnten die Stadt auf dem Wasserweg erreichen: Der Fluss Wolchow, an dem die Stadt lag, verband sie mit dem Ladogasee, von dem aus man über die Newa die Ostsee erreichen konnte. Die Zahl der Kaufleute war so groß, dass im 12. Jahrhundert in Nowgorod die ersten ausländischen Handelsniederlassungen, die sogenannten Höfe, gegründet wurden.

Die ersten ausländischen Höfe

Der erste Hof der ausländischen Kaufleute in der Stadt war der Gotische Hof, der die aus Gotland kommenden Händler repräsentierte. Diese Insel, die im Laufe der Jahre häufig den Besitzer wechselte, spielte eine wichtige Rolle im Ostseehandel: Ihre geografische Lage machte sie zu einer Art Zwischenstation für die Kaufleute auf ihrer Reise. Gotland sowie Dänemark und Schweden (zu denen die Insel heute gehört) dominierten den Außenhandel Nowgorods im 12. Jahrhundert. Auch der größte Hafen der Insel, Wisby, hatte ein Büro in Nowgorod. Die Straße, in der es lag, trägt noch immer den Namen Ryska gränd. Durch die regelmäßigen Besuche der Kaufleute hatte sich bis 1117 der Ort ihrer Niederlassung – der Gotische Hof – in der Stadt etabliert.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts trat ein weiterer wichtiger Akteur im Ostseehandel auf - die Stadt Lübeck. Da die Deutschen die Bedeutung Gotlands erkannten, bemühten sie sich um eine enge Partnerschaft mit der Insel, und nachdem sie sich dort niedergelassen hatten, erhielten sie auch Zugang zu Nowgorod. Pelze, Wachs, Honig und verschiedene orientalische Waren konnten dort zum Weiterverkauf erworben werden. Im ersten Handelsabkommen zwischen Nowgorod und der Gotischen Küste hieß es: „Der Botschafter von Nowgorod und jeder Nowgoroder kann in Frieden in die teutschen Lande und an die Gotische Küste kommen; auch können Teutsche und Gotländer nach Nowgorod kommen, ohne dass ihnen Unflat zuteil wird. Wir fügen niemanden Harm zu.“

Wie wurden die Deutschen zu wichtigen Partnern?

Nach und nach schlossen sich die Handelsstädte entlang der Ostsee und der nördlichen Meere zu Allianzen zusammen: Nur mit vereinten Kräften konnten sie die Sicherheit der Expeditionen gewährleisten und von ihren Partnern Privilegien erhalten. Eine dieser Gruppen war die berühmte Hansa oder Hanse. Nowgorod war einer der wichtigsten Handelspartner der neuen Allianz.

Die Zahl der deutschen Kaufleute in Nowgorod wuchs, und im Laufe der Zeit verdrängten sie die Goten und konzentrierten den Ostseehandel in ihren Händen, wie die promovierte Historikerin Jelena Rybina betont. Zunächst wohnten sie während ihrer Geschäftsreisen am Gotischen Hof, doch schon Ende des 12. Jahrhunderts, um 1192, schufen sie ihren eigenen Hof – den Deutschen Hof. Schließlich wurden die Höfe unter die gemeinsame Herrschaft deutscher Kaufleute gestellt und zum Hansischen Hof. Im Winter 1336-1337 hatten beide Nowgoroder Höfe etwa 160 Einwohner, im Jahr 1439 waren es bereits 200 Einwohner. In Lübeck selbst entstand im Zuge der Bildung von Kaufmannsvereinigungen mit regionaler Spezialisierung die Begriffe Nowgorodfahrer, und Nowgorodskije gosti (dt.: Nowgorodgäste).

Wie waren der Deutsche und der Gotische Hof organisiert?

Ausländischen Kaufleuten wurde Religionsfreiheit gewährt, daher hatten die Höfe ihre eigenen Kirchen: der Deutsche Hof die St.-Petri-Kirche, zu deren Ehren der Hof selbst oft auch Peterhof genannt wurde, der Gotische Hof die St.-Olaf-Kirche, die von den Einheimischen Warjaschskaja boschniza (dt.: Warägisches Gotteshaus) genannt wurde. Unter diesem Namen wurde die Kirche beispielsweise in den Aufzeichnungen über Brände in Nowgorod erwähnt: So heißt es in der Chronik von 1217, dass „die gesamte Priesterschaft der Wikinger in der Warjaschskaja boschniza verbrannt“ wurde. In der Nähe beider Kirchen gab es gleichnamige Friedhöfe. Die Kirche erfüllte nicht nur eine religiöse, sondern auch eine praktische Funktion: Das Archiv des Hofes und besonders wertvolle Güter wurden dort aufbewahrt. Sie mussten bewacht werden, weil die örtliche Bevölkerung die Kirche trotz Verboten immer wieder ausraubte.

Der Schlüssel zum Gotteshaus wurde dem Priester übergeben, und die Geistlichen kamen in zwei verschiedenen Karawanen, die zweimal im Jahr, im Winter und im Sommer, nach Nowgorod reisten. Sie wurden Winterfahrer und Sommerfahrer genannt. Einigen Deutschen gelang es, die Stadt auf dem Landweg zu erreichen, und diese Praxis setzte sich allmählich durch, wie der Historiker Philipp Dollinger feststellte. Diese Handelsreisende wurden deshalb auch Landfahrer genannt.

Das Gericht wurde von einem Ältermann geleitet, der von den Kaufleuten auf dem Weg nach Nowgorod gewählt wurde; auch die St.-Petri-Kirche hatte einen eigenen Ältermann. Diejenigen, die das Angebot ablehnten, sollten dreimal im Namen des gesamten Hofes überredet werden, und wenn das nicht half, sollten sie mit einer Geldstrafe belegt werden. Dasselbe geschah mit den vier Assistenten, die von den Ältermännern ernannt wurden, die „die vier Weisesten, mit denen sie zuvor zu tun gehabt hatten“ („vier wisesten, of te se erer to donde hebben“), auswählten.

Neben ihren Pflichten genossen die Ältermänner auch bestimmte Privilegien, wie z. B. die Befreiung von der Pflicht, den Hof und die Kirche zu bewachen, und die Möglichkeit, für sich und ihre Begleiter eine Unterkunft zu wählen, ohne dafür bezahlen zu müssen, während alle anderen ein Los ziehen und für die Unterkunft bezahlen mussten. Später wurde die Auswahl der Ältermänner den Stadtvertretern überlassen, während im 16. Jahrhundert diese Funktion von eigens dafür gewählten Schöffen ausgeübt wurde.

Nach welchen Regeln lebten die Deutschen?

Der Deutsche Hof  lebte nach einer besonderen Verfassung: Sie wurde Schra genannt und enthielt die grundlegenden Gesetze und die Strafen für deren Verletzung. Der Kodex wurde im Laufe der Zeit mehrmals aktualisiert, und bestimmte Regeln wurden auch in Handelsverträgen zwischen den Städten festgelegt. So wurde z. B. das Gebiet der Höfe eingeschränkt, die Entfernung von Zäunen und der Bau neuer Gebäude um die Höfe herum verboten und die Abfallablagerung untersagt.

Bußgelder wurden für alles Mögliche verhängt, von der Nichtteilnahme an Versammlungen bis hin zur Beleidigung „eines Schurken oder eines Sohnes einer unartigen Frau oder eines Lügners oder dergleichen“ („scalc edder heriensone, edder leghen, ofte deme ghelic“). Die dritte Auflage der Schra enthielt sogar ein Kapitel mit der Überschrift Der knapen recht, das die von den Kaufleuten beschäftigten Diener schützte. Sie durften beispielsweise nicht wegen Krankheit oder bis zu ihrer Rückkehr nach Hause entlassen werden, es sei denn, es gab einen triftigen Grund dafür.

Es kam auch zu Konflikten zwischen Nowgorodern und Ausländern. Daher war es den Einheimischen unter Androhung schwerer Strafen verboten, bewaffnet auf dem Gebiet des Deutschen und Gotischen Hofes zu erscheinen. Gegen diese Regelung wurde jedoch mehrfach verstoßen, z. B. bei Großbränden in der Stadt. Einer dieser Brände ereignete sich im Jahr 1299 und sein Ursprung war der Peterhof. „Und das Feuer kam aus dem teuschen Hof zum Nerewski-Fünftel.... Und so kam die große Verdammnis über die Welt, und so wurden Gott und die guten Menschen getötet; und die Bösen ließen sich auf Plünderungen ein: in den Kirchen wurde alles geplündert“, heißt es in einer der Nowgoroder Chroniken über dieses Ereignis.

Allmählich bildeten die Deutschen sogar ihre eigenen Rechtsprechungsorgane, in denen ein Ältermann die Hauptrolle spielte, dessen Macht jedoch begrenzt war, um Arglist zu vermeiden. Durch die Erhebung von Bußgeldern aller Art sicherten die Deutschen ihre Kassen, aus denen sie die Kosten abzogen und schließlich nach Gotland und Lübeck schickten.

Im 15. Jahrhundert begann mit dem Ostseehandel auch die Macht der Hanse zu schwinden. Nachdem die Moskauer Behörden die Kontrolle über Nowgorod übernommen hatten, wurde der Deutsche Hof geschlossen und erst nach 20 Jahren wieder eröffnet. Der neue Hof konnte jedoch seine frühere Größe nicht mehr erreichen und stand wiederholt am Rande des Untergangs.

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