„Man sollte wirklich nicht wegen irgendwelcher, ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr lang andauernder Unannehmlichkeiten in die Flasche kriechen“, schrieb der sowjetische Dissident und Menschenrechtsaktivist Juli Daniel vor über fünfzig Jahren.
Diese Aussage scheint absurd zu sein – was haben Unannehmlichkeiten mit dem Kriechen in eine Flasche zu tun? Es sei denn, man versteht unter dem „Kriechen in die Flasche“ den übermäßigen Genuss von Alkohol. Aber weit gefehlt!
Лезть в бутылку (lestj w butýlku, dt.: in die Flasche kriechen) bedeutet eigentlich, sehr wütend zu werden, die Beherrschung zu verlieren und sich wegen Nichtigkeiten aufzuregen. Ein Beispiel: Wenn man in der U-Bahn aus Versehen angerempelt wird, sollte man nicht „in die Flasche kriechen“ und sich im ganzen Waggon lautstark darüber beschweren.
Was hat ein Skandal mit einer Flasche zu tun? Natürlich wird das Wort in dieser Formulierung nicht in seiner wörtlichen Bedeutung verwendet.
Butýlka ist der volkstümliche Name für das Gefängnis auf der Insel Neu-Holland in St. Petersburg! Das ringförmige Gebäude der Haftanstalt wurde 1829 nach einem Entwurf des Architekten Alexander Staubert auf Neu-Holland errichtet. Früher war es ein Industriekomplex mit Schiffsreparaturwerften und Lagerhäusern sowie einem Gefängnis für Seeleute – der „Flasche“.
Und verständlicherweise wollte niemand in der „Flasche“ landen, schon gar nicht wegen einer Kleinigkeit. Daher stammt der Legende nach stammt der Ausdruck von hier. Die Seeleute warnten sich gegenseitig, nicht auszurasten, sonst käme man in die „Flasche“, und so bürgerte sich der Ausdruck im Volk ein.
Es gibt eine Vielzahl russischer Redewendungen und Ausdrücke mit dem Verb лезть. Das liegt an den unterschiedlichen Bedeutungen dieses Verbs – es kann kriechen, klettern, sich hineindrängen, sich einmischen u.ä.m. bedeuten.
Und dann gibt da noch das etwas veraltete лезть со свиным рылом в калашный ряд (lestj so swaím swiným rylom w kaláschnyj rjad), das so viel bedeutet wie seine Nase in alles stecken.
Im modernen Russland lautet eine beliebte Redewendung не лезь в свое дело. Im Deutschen würde man sagen: Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Einem Kind kann auch strikt befohlen werden: Не лезь!, also Hänge dich da nicht rein! oder Finger weg!
Das Verb лезть selbst gilt als umgangssprachlich und sogar als unhöflich.
Das Wörterbuch sagt: лезть bedeutet, über etwas hinweg zu klettern oder sich einen Weg hinein oder hinaus zu bahnen. Man kann über einen Zaun klettern, unter einem verschlossenen Tor hindurchkriechen und Diebe können auch in eine Wohnung einbrechen.
Darüber hinaus wird das Verb auch in der umgangssprachlichen Bedeutung von линять (linjátj, dt.: sich häuten, haaren oder mausern) verwendet.
Natürlich ist die Flasche im allgemeinen Bewusstsein in erster Linie eine Metapher für Alkohol.
In Anlehnung an die lateinische Redewendung in vino veritas gibt es im Russischen die Redewendung истина на дне бутылки(ístina na dnje butýlki) – Die Wahrheit [liegt] auf dem Boden der Flasche.
„Alkohol trinken“ kann im Russischen durch das allegorische раздавить бутылку (rasdawítj butýlku, dt.: eine Flasche zerdrücken oder besser eine Flasche knacken) ersetzt werden. Eine Flasche kann man auch раздавить oder сообразить (soobrasítj, dt.: sich teilen) на троих (na troích, dt.: zu dritt). Zu Sowjetzeiten kostete eine Flasche Wodka drei Rubel und arme Leute sprachen (manchmal sogar wildfremde) Interessenten an, legten ihr Geld zusammen und kauften eine Flasche, die sie zu dritt austranken.
Als враг бутылки (wrag butýlki, dt.: Feind der Flasche) wird ein Abstinenzler bezeichnet. Wer aber заглядывает в бутылку (sagljadywáet w butylku, dt.: in die Flasche schaut), zeigt Charakterschwäche und betrinkt sich von Zeit zu Zeit und gerät dann möglicherweise in Schwierigkeiten.
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