Warum Leo Tolstoi Amerika so sehr mochte

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Obwohl der führende Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Leo Tolstoi, nie in Amerika gewesen war, eiferte er dennoch Benjamin Franklin nach, unterstützte die Ideen von Henry George, las Walt Whitmans Poesie und erhielt ein Geschenk von Thomas Edison.

Englisch war nicht Tolstois Lieblingssprache. Er schrieb sogar, dass er es satt habe, sie zu sprechen, sagt Galina Aleksejewa, eine Tolstoi-Gelehrte und Autorin des Buches „Tolstois amerikanische Dialoge“. Dessen ungeachtet erhielt er während seines Lebens 2 500 Briefe von Amerikanern, lud einige der Menschen zu sich nach Hause ein und begeisterte sich für amerikanische Literatur.

Franklins Tugenden

In seinen jungen Jahren las Leo Tolstoi Benjamin Franklins „13 Tugenden“ und versuchte, der Liste von guten Eigenschaften, die man jeden Tag praktizieren sollte, zu folgen. Dieses Buch traf bei Tolstoi den richtigen Nerv, da er immer wieder mit „fleischlichen Begierden“ kämpfte. Wie Franklin hielt Tolstoi in einem täglichen Tagebuch seine Aktivitäten fest, doch im Gegensatz zu Franklin, der die Tugenden, die er praktizierte, aufschrieb, notierte Tolstoi seine Makel. Zum Beispiel versprach er, das „Haus der Liebe“ nicht mehr als zwei Mal im Monat zu besuchen und keine Karten zu spielen.

Tolstoi stattete auch seine Romanfiguren mit Franklins Werken aus. So sagt Lewin in Anna Karenina: „Ich bin sicher, Benjamin Franklin fühlte sich genauso wertlos und hatte das gleiche Misstrauen gegenüber sich selbst wie ich, als er sich einschätzte.“

Henry Georges Anhänger

Tolstoi verehrte auch Henry George, den Autor des Buches „Fortschritt und Armut“ aus dem Jahr 1879. Tolstoi schrieb zwei Briefe, in denen er sein Verständnis für Georges Vorstellungen kundtat und nannte ihn „einen der größten Männer des 19. Jahrhunderts“. Tolstoi wollte Georges Ideen unter seinen Lesern bekannt machen, so dass er Nechljudow in dem Roman „Die Auferstehung“ zu einem Anhänger von Georges Ideen machte. Tolstoi schrieb darüber hinaus Briefe an den russischen Premierminister Pjotr Stolypin sowie Zar Nikolai II., um sie zu überreden, Georges Ideen umzusetzen, doch die Reaktion auf seinen Vorschlag war eher mäßig. Tolstoi korrespondierte mit George, der ihm persönlich all seine Bücher, die heute in Jasnaja Poljana ausgestellt sind, schickte.

Tolstoi und die amerikanischen Schriftsteller

Tolstois Bibliothek enthält ebenso Bücher amerikanischer Autoren, die mit Kommentaren von ihm versehen sind und so sein starkes Interesse an ihnen zeigen. Tolstoi übersetzte und veröffentlichte ferner Henry Thoreaus Essay „Ziviler Ungehorsam“, der mit Tolstois Gedanken über den Widerstand gegen einen ungerechten Staat resonierte.

Tolstoi hat des Weiteren in seinen Werken seine Übersetzungen amerikanischer Autoren miteinbezogen. Er studierte Werke des Sklavereigegners William Lloyd Garrison und integrierte Ideen aus seiner „Erklärung der Gefühle“ in das erste Kapitel seiner Abhandlung „Das Himmelreich in euch“. Das gleiche Werk enthält Zitate von Adin Ballou, einem anderen amerikanischen Schriftsteller, mit dem Tolstoi einen Briefwechsel pflegte.

Tolstoi schrieb seine Gefühle gegenüber amerikanischer Literatur und Philosophie in einem Brief an den englischen Schriftsteller Edward Garnett auf. Er dankte darin dem amerikanischen Volk „für die große Hilfe, die ich von ihren Schriftstellern erhalten habe, die seit den 1850er Jahren geblüht haben“ und führte unter anderem William Garrison, Theodore Parker, Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman als Beispiele auf.

Im Jahr 1886 übersetzten viele Verlagshäuser die Romane und Essays von Tolstoi ins Englische. Zwei seiner Übersetzer waren Louise und Aylmer Maude, die die Gelegenheit hatten, den Autor zu konsultieren. „Maude wollte nicht eine einzige Zeile übersetzen, ohne Tolstoi zu schreiben“, sagt die Tolstoi-Gelehrte Aleksejewa.

Neben Prosa und Essays las Tolstoi auch amerikanische Lyrik und erhielt Walt Whitmans „Grasblätter“ als ein Geschenk. Dieser Gedichtband machte auf ihn zunächst den Eindruck „feine Poesie“ zu sein, doch später entwickelte Tolstoi durchaus ein Interesse am amerikanischen Dichter und testete sogar seine amerikanischen Besucher auf ihr Wissen über dessen Dichtung.

Tolstoi empfing außerdem sehr wichtige amerikanische Gäste. So stattete der Außenminister William Jennings Bryan im Jahre 1894 Tolstoi in Jasnaja Poljana einen Besuch ab. Bryan sollte am nächsten Tag eine Verabredung mit Nikolai II. haben, schrieb aber unglaublicherweise dem Zaren, er würde sich mit seinem Besuch um drei Tage verspäten. Tolstoi seinerseits bewunderte Bryan, dessen Bild an seiner Schlafzimmerwand hing.

Ein weiterer berühmter Gast war Ernest Howard Crosby, der im Jahr 1894 zum ersten Mal Tolstois Werk „Über das Leben“ las und nach Jasnaja Poljana kam, um ihn persönlich zu treffen. Crosby wurde zum Vertreter von Tolstois Theorien und befürwortete seine Idee des universellen Friedens.

Bis heute wird Tolstoi in den USA verehrt, insbesondere nach dem die Verfilmungen seiner Romane „Anna Karenina“ mit Keira Knightley und Jude Law im Jahr 2012 und die Fernsehserie „Krieg und Frieden“ mit Paul Dano und Lily James im Jahr 2016 erschienen. Im Jahr 2008 wurde „Der Tod des Iwan Iljitsch“ als interkulturelle Lesung im Projekt „Big Read“ der staatlichen Stiftung „National Endowment for the Arts“ in den Vereinigten Staaten vorgestellt. Tolstois Werk wurde in den Vereinigten Staaten ebenso von Oprah Winfrey populär gemacht, die ihr Publikum ermutigte, die neue Übersetzung von „Anna Karenina“ von Richard Pevear und Larissa Volokhonsky zu lesen.

Ein Geschenk von Thomas Edison

Der amerikanische Erfinder Thomas Edison machte Tolstoi das ungewöhnlichste Geschenk und zeichnete seine Stimme für zukünftige Generationen auf. Im Jahr 1907 versprach Stephen Bonsal, der Chefredakteur der New York Times, Tolstoi Thomas Edisons neue Erfindung, einen Plattenspieler, zukommen zu lassen. Nachdem er erfahren hatte, für wen das Geschenk bestimmt war, weigerte sich Edison, für sein neuestes Modell Geld zu nehmen und ließ es dem russischen Schriftsteller nach Jasnaja Poljana mit den eingravierten Worten „Ein Geschenk an Graf Leo Tolstoi von Thomas Alva Edison“ schicken.

Das Geschenk erreichte Tolstoi im Jahr 1908 und wird immer noch in Jasnaja Poljana ausgestellt. Edison bat dann Tolstoi, für ihn mehrere Aufnahmen auf Englisch und Französisch zu machen: „Kurznachrichten, die den Menschen in der Welt einige Gedanken, die ihren moralischen und sozialen Fortschritt förderten würden, übermitteln“, schrieb Edison. „Sie sind weltweit berühmt und ich bin mir sicher, dass eine Botschaft von Ihnen Millionen von Menschen erfreuen würde.“

Tolstois Leibarzt, Duschan Makowitzki, erinnerte sich, dass Tolstoi sich gründlich auf die Aufnahme vorbereitete und viel darüber nachdachte, was genau er Millionen von Zuhörern mitteilen wollte.

Tolstoi hat erfolgreich einen Auszug aus seiner Abhandlung „Über das Leben“ in russischer und französischer Sprache vorgelesen. Als er auf Englisch las, stolperte er jedoch über ein paar Wörter und musste am nächsten Tag eine neue Aufnahme machen. Die Aufnahmen sind insgesamt gut gelungen, haben die Reise über den Ozean überlebt und Edison in Amerika erreicht. Man kann sich diese Aufnahmen hier anhören.

>>>Gegen Staat, Kirche und Shakespeare: Tolstois drei „heilige Kriege"