Legassow stand der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien fünf Stunden lang Rede und Antwort. Mit seinem Bericht klärte er die internationale Gemeinschaft umfassend auf, doch machte er sich damit im eigenen Land unter seinen Kollegen unbeliebt.
Der Weg nach Tschernobyl
Waleri Legassow wurde 1936 in Tula geboren und wusste schon früh, welchen Beruf er einmal ergreifen würde. Er war ein hervorragender Schüler und eine geborene Führungspersönlichkeit. Er studierte am Moskauer Mendelejew-Institut für Chemie und Technologie, das Spezialisten für die Atomindustrie und den Energiesektor ausbildete. Nach seiner ausgezeichneten Abschlussarbeit erhielt Waleri das Angebot, am Kurtschatow-Institut für Atomenergie zu promovieren, doch er lehnte zunächst ab. Er wollte unbedingt im Chemiewerk von Tomsk an der Entwicklung von Plutonium für Atomwaffen arbeiten.
Nach zwei Jahren dort wechselte er schließlich doch zum Kurtschatow-Institut. Mit 36 Jahren promovierte er in Chemie und wurde mit 45 Jahren eines der jüngsten Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS).
Trotz seiner herausragenden Leistungen war er kein Experte für Kernreaktoren. Es war beinahe Zufall, dass er am 26. April 1986 nach der Katastrophe von Tschernobyl in die staatliche Kommission berufen wurde. „Der 26. April war ein Samstag. … Die Kommission benötigte zwingend ein wissenschaftliches Mitglied. Die Leiter und Stellvertreter des Kurtschatow-Instituts waren nicht erreichbar, nur mein Vater. Ein Flugzeug stand am Flughafen Wnukowo bereit. So flog mein Vater noch am gleichen Tag nach Tschernobyl”, erinnert sich (rus) Legassows Tochter Inga.
Doch es hätte noch einen anderen guten Grund gegeben, Legassow zu wählen. Vor dem Super-GAU hatte er gerade erst darauf hingewiesen, wie wichtig ein Konzept zur Verhinderung solcher Katastrophen sei.
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Schlimmer als 1941
Bei seiner Ankunft koordinierte Legassow die Nothilfe. Er bestand darauf, dass die Bevölkerung von Prypjat am 27. April evakuiert wurde und versuchte, die schädlichen Folgen der Reaktorexplosion zu begrenzen. Zwar war bei Legassows Ankunft am Morgen des 26. Aprils das Feuer im Reaktor bereits unter Kontrolle, doch waren große Mengen radioaktiver Partikel in die Atmosphäre gelangt. Die Überreste des Reaktors stellten weiterhin eine Gefahrenquelle dar. „Es gab eine solche Unvorbereitetheit, eine solche Unordnung, eine solche Angst. Es war wie 1941, nur schlimmer”, sagte Legassow später.
Legassow arbeitete ohne eine einzige Pause und ignorierte häufig sein Dosimeter, das die Aufnahme der radioaktiven Strahlung gemessen hat. Mehrmals am Tag flog er über Tschernobyl. Aufgrund seiner Anordnung stiegen Hubschrauber auf, die in großen Mengen Borcarbid abließen, das als Neutronenabsorber fungieren sollte, um eine weitere Kettenreaktion zu verhindern. Später wurde Dolomit als Wärmesenker und Kohlendioxidquelle hinzugefügt, um das Feuer zu ersticken. Blei, Sand und Ton wurden als Strahlungsabsorber eingesetzt. Man hoffte, so die Freisetzung weiterer radioaktiver Partikel einzudämmen. 5 000 Tonnen Material wurden über dem Reaktor abgeworfen (eng).
Später wurden auch Maßnahmen ergriffen, um eine Kontaminierung des Grundwassers zu verhindern. Es gab die Anweisung, maximal zwei Wochen auf der Baustelle zu verbringen. Legassow verbrachte dort vier Monate. Er war regelmäßig einer Strahlung von 100 REM (Roentgen Equivalent Man) ausgesetzt - dem vierfachen der maximal zulässigen 25 REM. Bereits am 5. Mai zeigte er erste Anzeichen der Strahlenkrankheit (Hautbräune und Haarausfall). Am 15. Mai kamen Hustenanfälle und Schlaflosigkeit hinzu.
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Der Wien-Report
Im August 1986 hielt er vor der IAEO in Wien einen Vortrag, um den ausländischen Kollegen einen Bericht über die Katastrophe und die Ursachen zu liefern. Zunächst sollte Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow dort auftreten, doch dieser wollte, dass Legassow, ein Mann, der vor Ort gearbeitet hatte, an seiner Stelle nach Wien fuhr. „Ein ganzes Team von Spezialisten hat an dem Bericht gearbeitet“, erinnert sich Inga Legassowa. „Vater hat die Zahlen immer und immer wieder überprüft. Er wollte sicherstellen, dass alle Informationen absolut korrekt waren.”
Legassow kam zu dem Schluss, dass die Explosion Folge einer Reihe verschiedener Faktoren war, einschließlich der konstruktiven Fehler des Reaktors und menschlichen Versagens. Das Personal hatte Mängel nicht erkannt und war sich nicht bewusst, dass einige der durchgeführten Tests eine Explosion verursachen konnten. Fünf Stunden dauerte der Vortrag Legassows, der die internationale Gemeinschaft ein wenig beruhigte und ihm im Ausland Anerkennung brachte. Doch zu Hause warfen die Behörden und auch andere Wissenschaftler ihm vor, Verschlusssachen öffentlich gemacht zu haben. Die Tochter sieht das Problem an anderer Stelle: „Die Informationen waren freigegeben. Der Bericht war sehr ehrlich. Es ging nicht um geheime Daten. Vaters Bericht fand viel Beachtung und er machte ihn im Ausland beliebt. In Europa wurde er Person des Jahres und zudem in die Liste der zehn bedeutendsten Wissenschaftler weltweit aufgenommen. Das machte seine Kollegen eifersüchtig”, glaubt sie.
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Die letzten Tage
Die nächsten zwei Jahre waren für Legassow sowohl psychisch als auch physisch eine Herausforderung. Er spürte die Abneigung der Kollegen und er war niedergeschlagen, weil es keine Bestrebungen gab, zukünftig Katastrophen wie die von Tschernobyl zu verhindern.
Angeblich soll Michail Gorbatschow seinen Namen auf Betreiben anderer Wissenschaftler aus der Liste derjenigen gestrichen haben, die für den Einsatz in Tschernobyl ausgezeichnet werden sollten. „Einige glauben, mein Vater sei enttäuscht gewesen, keine Auszeichnung bekommen zu haben. Doch dem war nicht so. Er war kein ehrgeiziger Mann”, erzählt Inga Legassow. „Er war ein Patriot und er bedauerte, was passiert war und wie die Menschen hatten leiden müssen. Er war sehr sensibel und das hat ihn innerlich zerstört”, führt sie weiter aus.
Zudem, so die Tochter, machten sich die Folgen der Strahlenkrankheit immer deutlicher bemerkbar: „Allmählich hörte er auf zu essen, er schlief nicht mehr. … Er wusste genau, was nun kommen würde, dass es sehr schmerzhaft werden würde. Doch er ließ sich nichts anmerken, wohl um meine Mutter zu schonen, die er angebetet hat.”
Im Jahr 1988 beging Legassow Selbstmord. Acht Jahre später, im Jahr 1996, erhielt er posthum für sein Engagement in Tschernobyl den Ehrentitel „Held der Russischen Föderation” vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin.