In den Anfängen der UdSSR hofften die Linken weltweit, dass der Kommunismus nun seinen globalen Siegeszug antreten würde. Doch nach wenigen Jahrzehnten war klar, Lenins sozialistische Ideale waren gescheitert. Wie konnte es dazu kommen?
Kommunismus unter dem Deckmantel des Sozialismus
„Es ist wichtig, Sozialismus und Kommunismus zu trennen”, sagt Jelena Malyschewa, Dekanin am russischen Institut für Geschichte und Archive. „Während der Sozialismus die formale Staatsform der UdSSR war, war der Kommunismus die herrschende Ideologie. Das Projekt eines sozialistischen Staates war von Beginn an unrealistisch und populistisch.”
Der Historiker und ehemalig leitender Archivar Russlands, Dr. Rudolf Pichoja, schreibt (rus) in seiner Abhandlung „Warum scheiterte die Sowjetunion?”, dass ein Hauptmerkmal des sowjetischen Staates die Einheit von Regierungsorganen und kommunistischer Partei war. Die Verfassung von 1977 definiert die Partei als „Herz des politischen Systems”. Was bedeutete das in der Praxis?
Lenin war der Meinung, dass der Oberste Sowjet, der sich aus den gewählten Vertretern lokaler Selbstverwaltungen zusammensetzte, eine direkte Demokratie sei, daher brauche es weder Parlament noch Gewaltenteilung. Doch die Wahlen zum Sowjet waren eine Farce. Alle Funktionäre wurden von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion bestimmt und deren Zentralkomitee regierte de facto den Staat. Militär, die Polizei, die Geheimdienste - alle gehörten zur Partei. Die staatliche Sicherheit wurde von einem Heer von KGB-Agenten überwacht. In einem Interview sagte der kürzlich verstorbene frühere KGB-Chef (von 1983 bis 1991), General Philipp Bobkow, dass in jeder Region etwa 300 bis 500 verdeckte KGB-Ermittler im Einsatz waren. In größeren Regionen waren es zwischen 1.500 und 2.000.
Unter diesen Bedingungen wurden die Kritiker und Aufständischen durch Gefängnisstrafen oder in Arbeitslagern eingeschüchtert. Über eine halbe Million Gefangene gab es 1933 in den schrecklichen Gulags, von 1936 an stieg die Zahl auf über eine Million. Zu Beginn der 1950er Jahre waren es 2,5 Millionen Insassen in den Lagern. Die Grausamkeit des Systems war offenkundig, vor allem für ausländische Beobachter.
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Lenin: „Ein Konzentrationslager ist vielleicht besser”
„Das Projekt Sowjetunion enthielt Elemente dessen, was wir heutzutage einen Sozialstaat nennen, wie unter anderem soziale Mobilität, zivilgesellschaftliche Organisationen, staatliche Unterstützung, kostenlose Gesundheitsversorgung. Doch wegen des utopischen Grundgedankens des Projekts konnte dies nicht gut umgesetzt werden”, meint Jelena Malyschewa. „Fehlende Gewaltenteilung, Selbstverwaltung des Volkes, all das erfordert ein großes soziales Verantwortungsbewusstsein, welches die sowjetische Gesellschaft aber nicht hatte“, erklärt sie.
Es mag sein, dass Lenin und seine Weggefährten tatsächlich geglaubt haben, dass alle Parteifunktionäre und Beamten grundehrlich und gerecht seien und ihre Position nicht missbrauchen würden, doch die Realität sah anders aus. Schon in den Anfängen der Sowjetunion wendeten die Bolschewiki unmenschliche Methoden an, um den Bauern das von ihnen produzierte Getreide abzunehmen. Das führte zu Unruhen und Aufständen. So auch beim Aufstand von Tambow von 1920/21, bei dem zehntausende Bauern ihr Leben verloren, teils von den Soldaten der Roten Armee hingerichtet.
Ausgelöscht werden sollten auch diejenigen, die nicht in die neue Welt passten, etwa die Bourgeoisie oder Großgrundbesitzer. „Eine gnadenlose Vernichtung ist notwendig", schrieb Lenin. „Es besteht keine Eile, die Ausländer zu vertreiben. Ein Konzentrationslager ist vielleicht besser”, sagte er. Zwar versuchte Lenin, ein Ideal von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit zu schaffen, doch seine Methoden dazu waren grausam. Der Psychologe Jordan Peterson hält es für naiv (eng), Lenin zu idealisieren und zu glauben, dass er nur das Wohl der Arbeiterklasse im Sinn gehabt habe.
Um den Widerstand der Bauern zu brechen, beschloss die Sowjetunion schließlich die Verstaatlichung von Privateigentum und die Kollektivierung von Land und landwirtschaftlichen Produktionsmitteln. Das Land der Bauern, das Vieh und die landwirtschaftlichen Werkzeuge gehörten von da Kolchosen - Kollektivfarmen. Die Bauern erhielten keinen Lohn mehr. Der „Tag der Arbeit” sollte Lohn genug sein. Bezahlt wurden sie in Naturalien. Historiker nennen als Jahr der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861, doch diese erlebte 1932 und 1937 ein Comeback, denn den Bauern war es verboten, die Kolchose zu verlassen, der sie zugeteilt worden waren.
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Der wirtschaftliche Niedergang
Das System der Kolchosen führte zu einem deutlichen Rückgang der Getreideproduktion. Es musste im Ausland zugekauft werden. Von einem der weltweit führenden Getreideexporteure (seit 1913) wurde Russland zu einem der größten Importeure. Rudolf Pichoja kennt die Zahlen: 1973 lag die Importrate von Getreide in der UdSSR bei 13,2 Prozent, 1981 bereits bei 41,4 Prozent.
1987 waren nur 24 Prozent der Produktion des Landes Konsumgüter: Der Staat hatte seine beispiellose Militarisierung auf Kosten der eigenen Bevölkerung vorangetrieben. Doch woher kamen die Staatseinnahmen? Von 1970 bis 1980 stieg die Ölförderung in Sibirien um das Zehnfache (von 31 Millionen Tonnen auf 312 Millionen Tonnen) und die Gasförderung von 9,5 Milliarden Kubikmeter auf 156 Milliarden Kubikmeter. Öl und Gas wurden in den Westen exportiert und entpuppten sich als die Lebensader der schwächelnden sowjetischen Wirtschaft.
„Der Parteiapparat und der Staatsapparat hatten sich auf allen Ebenen zusammengeschlossen: auf exekutiver, administrativer und kommunikativer Ebene", sagt Malyschewa. Sollte es bei einem von beiden kriseln, würde das den gegenseitigen Untergang bedeuten. Mit dem Aufkommen demokratischer Strömungen in den späten 1980er Jahren verlor die Partei an Macht. Obwohl die kommunistische Ideologie an sich überlebensfähig gewesen wäre, wurde ihr die Verschmelzung mit dem Staatsapparat zum Verhängnis.
Die Katastrophe von Tschernobyl hat gezeigt, dass die Exekutive bis ins Mark verfault war. Nachdem Michail Gorbatschow soziale und politische Reformen eingeleitet hatte, brach das instabile Gleichgewicht zwischen Partei und Staat vollends zusammen. Nach der Einführung echter Wahlen zeigten die Völker der Sowjetrepubliken starke Unabhängigkeitsbestrebungen und wollten ihre eigenen Entscheidungen treffen. Die Partei befand sich in der Auflösung. Zwischen 1986 und 1989 traten 90 Prozent der örtlichen Parteibeamten in den Republiken zurück. Schließlich brach die Union auseinander. Das sowjetische System war nicht in der Lage, sich entsprechend den Anforderungen der damaligen Zeit zu reformieren, und erwies sich als nicht nachhaltig.