Die Ereignisse in der Netflix-Serie „Die letzten Zaren", die russische Revolution und der anschließende Mord an der russischen kaiserlichen Familie, waren in Wirklichkeit so komplex und vielschichtig, dass sie mit den Mitteln und dem Budget der Serie einfach nicht vermittelt werden konnten. Daher macht es wenig Sinn, auf jede einzelne der historischen Ungenauigkeiten in der Darstellung der Epoche einzugehen.
Doch das größte Problem der Serie ist, dass die Romanows wie eine US-amerikanische Familie der oberen Mittelklasse dargestellt werden und das politische Leben im zaristischen Russland wie ein Wanderzirkus, mit hüpfenden, schreienden und immerzu kämpfenden Menschen.
Es gibt jedoch einige sehr grobe Fehler, die wir nicht unerwähnt lassen können.
Zar Nikolaus wird gezeigt, wie er während der Begräbnisfeier seines Vaters in der Kirche trinkt. Werfen Sie einmal einen Blick auf die historischen Aufnahmen von Zar Nikolaus. Stets ist er umringt von seinem Gefolge und Hofbeamten. Unter diesen Umständen konnte der Zar gar nicht heimlich trinken. Darüber hinaus hätte es sich der Zar aufgrund seiner Stellung und des formalen Charakters einer Beerdigung niemals erlaubt, etwas Derartiges zu tun.
Simon Montefiore, der den Erzähler in der Serie gibt, sagt fälschlicherweise, dass der Zar alles unter seiner Kontrolle gehabt habe. Er sei Papst, Premierminister usw. in Personalunion gewesen. Das ist von der Wahrheit weit entfernt: Die Zaren, und insbesondere Nikolas II., vertrauten bei allen Entscheidungen ihren Beratern und der Regierung. Seine Handlungen waren vom russischen Adel gesteuert – andernfalls wäre er völlig machtlos gewesen.
Maria Fjodorowna wird gezeigt, wie sie die Krone auf Alexandras Kopf setzt und sagt: „Du bist eine von uns.” Keinesfalls wäre dies im Privaten geschehen. Die Krönung war ein öffentliches Ereignis. Zudem konnte nur der Zar, der Machthaber, die Zarin krönen.
Rasputin liest das Evangelium in der neuen bolschewikischen Schreibweise ohne die vorrevolutionären russischen Buchstaben. Zudem betet er vor einem eindeutig katholischen Kruzifix.
In der Serie ereignet sich die Tragödie von Chodynka während der Krönungszeremonie. Doch die Krönung fand am 14. Mai statt. Die Katastrophe in Chodynka ereignete sich vier Tage später, am 18. Mai.
„Chodynka” von Wladimir Makowski
Wladimir MakowskiDie Krönungsszene hat niemals so stattgefunden, wie es in der Serie gezeigt wird. Die Krönungszeremonie von Nikolas und Alexandra war eine der prunkvollsten in der russischen Geschichte.
Sie war kein beiläufiges Ereignis in irgendeiner russischen Kirche in Anwesenheit nur der engsten Familienmitglieder. Lesen Sie über die Krönung und schauen Sie sich die Fotos aus der Zeit an!
Simon Montefiore ist der Meinung, Nikolas und Alexandra hätten die Opfer der Chodynka-Tragödie im Krankenhaus besuchen sollen. Das taten sie. Sie haben den Betroffenen 80.000 Rubel und 1.000 Flaschen Madeira-Wein überlassen. Am 19. und 20. Mai besuchten sie in Begleitung von Großherzog Sergei Alexandrowitsch zwei Krankenhäuser, in denen die Verletzten behandelt wurden.
In der Serie wird Großherzog Sergei Alexandrowitsch als kleinwüchsiger, verbitterter und wütender Konservativer dargestellt. Nach dem, was die Serie impliziert, wurde er getötet, weil er die Verkörperung der Autokratie gewesen sei.
Großherzog Sergei Alexandrowitsch
Getty ImagesIn Wirklichkeit war der Großherzog völlig anders und wahrscheinlich eine viel komplexere Persönlichkeit. In der Tat war er entschieden gegen demokratische Reformen. Aber er sah anders aus und benahm sich anders. Der Großherzog war größer als Nikolaus. Er hatte sanfte Gesichtszüge und war blond. Er war jedoch in der Tat verbittert und sarkastisch. Nicht viele Leute mochten ihn.
Weder der Krönungstag noch der Tag, an dem sich die Tragödie von Chodynka ereignete, waren der Beginn von Nikolas Regentschaft. Zum Zaren und Herrscher wurde er am 21. Oktober 1894, unmittelbar nach dem Ableben seines Vaters. Die Krönung fand erst anderthalb Jahre später statt, im Mai 1896.
Nikolas und Alexandra werden gezeigt, wie sie nach Sarow reisen, um für Alexandras Fruchtbarkeit zu beten. Diese Reise wurde zeitlich mit der Seligsprechung des Heiligen Serafim von Sarow abgestimmt. Diese Seligsprechung war ein kluger Schachzug Nikolas, da Serafim von den Russen sehr verehrt wurde. Schauen Sie sich die Fotos dieser Reise an. Unter keinen Umständen hätte das Zarenpaar die Reise alleine antreten können.
Die kaiserliche Familie wurde von mindestens 15.000 Infanteristen beschützt. Es waren überall Soldaten. Eine intime Zusammenkunft des Paares, wie in der Serie gezeigt, wäre nicht möglich gewesen. Zudem hätten sich Zar und Zarin außerhalb ihres Schlafgemachs nicht in einfacher Kleidung präsentieren können.
Nikolas und Alexandra werden gezeigt, wie sie während einer Cocktailparty im Palast ihren lang ersehnten Sohn und Thronfolger den Gästen präsentieren. Nikolas selbst trägt den Jungen, um ihn der Familie zu zeigen. Das ist einfach lächerlich. Die Gesundheit und das Wohlergehen des Thronfolgers hatten höchste Priorität bei Hofe. Jeder öffentliche Auftritt wurde zelebriert.
Wahr ist, dass Nikolas II. ein starker Raucher war. Er rauchte Papierosy, damals eine spezielle Art von zylindrischen Pappkartuschen, die mit Tabak gefüllt waren. Die Zigaretten, die jeder in der Serie raucht, sind eindeutig ein Anachronismus.
Katherine Antonowa ist eine der wenigen Beraterinnen, die tatsächlich russische Geschichte lehrt, aber dennoch erzählt sie Unsinn, indem sie Milica und Anastasia als „schwarze Prinzessinnen” bezeichnet. Sie wurden in eine Familie eines montenegrinischen Prinzen hineingeboren und anschließend mit den Prinzen der Familie Romanow verheiratet. Obwohl sie nicht von so vornehmer Herkunft waren wie die Romanows, zählten sie doch zum Adel. Als „schwarz” wurden sie nie bezeichnet. Es scheint, als hätten die Drehbuchautoren die Wörter „Tschernogorija" (zu Deutsch: „Montenegro“) und „tschernyj" (zu Deutsch: „schwarz“) verwechselt. Sehr schade!
Zar Nikolaus war ein sehr modebewusster Mann, einer der bestgekleideten und wohlhabendsten Dandys seiner Zeit in Europa.
Als Zar stand er vielen kaiserlichen Regimentern vor und konnte unter zahllosen Paradeuniformen wählen. Doch in der Serie trägt er stets ein und dieselbe Uniform, als wäre er ein gewöhnlicher Militäradjutant. Schauen Sie sich Nikolas in den verschiedenen Uniformen selbst an.
Während Dr. De Orellana über die Ereignisse von 1905 spricht, zeigt das Filmmaterial die russische Bevölkerung in den 1930er Jahren, was anhand der im Film zu sehenden Kabel klar beurteilt werden kann. Die Straßen in Russland wurden erst in den 1920er und 1930er Jahren elektrifiziert. Gleiches gilt für die Fabriken, die mehrfach im Filmmaterial gezeigt werden. An einer Stelle ist sogar ein hungernder Afrikaner zu sehen. Es gibt begründete Zweifel, dass das Filmmaterial historisch korrekt ist (obwohl es definitiv Aufnahmen der Revolutionen von 1905 und 1917/1918 gibt).
Dr. De Orellana spricht von Kindern, die auf Bäumen saßen und erschossen wurden und einem Massaker. Es gibt für das, was er sagt, keinen historischen Beweis. Am 9. Januar hat es einen großen Aufstand mit tausenden Toten gegeben, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Armee. Das Ausmaß und die Bedeutung werden in der Serie untertrieben. Der Blutsonntag wirkt wie eine unbedeutende Revolte.
Dr. De Orellana gibt fälschlicherweise eine Opferzahl zum 9. Januar an. Über die genaue Zahl wird aber noch immer gestritten. Sie liegt wahrscheinlich bei mehr als zwei- bis dreitausend Menschen.
Dr. Philippa Hetherington macht wahrscheinlich den lächerlichsten Fehler in der Serie und nennt die Duma eine „gewählte Regierung", während sie eine gewählte Legislative war. Außerdem hören wir in der fünften Folge von einem „Präsidenten der Duma", was ziemlich lustig ist - es gab keine solche Position - die Duma hatte einen Vorsitzenden!
Nikolas II. finanzierte keine Pogrome gegen Juden. Zwar gab es vermehrt Pogrome während seiner Regierungszeit und innerhalb der russischen Armee und Polizei war Antisemitismus weit verbreitet, was es erschwerte, die Pogrome zu verhindern. Ob aber die russische Regierung wirklich nichts gegen Pogrome unternehmen wollte, ist umstritten. Diese Anschuldigungen sind unverschämt.
Pjotr Stolypin und auch andere Charaktere in der Serie schreien den Zaren an. Das wäre aufgrund der gesellschaftlichen Rangfolge zumindest bis zur Abdankung des Zaren ein Unding gewesen.
Das ist pure Erfindung. Tatsächlich war Stolypin Rasputin gegenüber sehr misstrauisch und befahl, den „Mönch“ zu überwachen, aber es sind keine Kontakte zwischen Rasputin und Stolypins Tochter bekannt.
Über Russland zu herrschen wird in der Serie wie eine einfache Verwaltungstätigkeit dargestellt, die die Ehefrau ausüben könne, während der Gemahl im Krieg ist. „Konzentriere dich auf den Krieg”, sagt Alexandra zu Nikolas. „Ich kümmere mich zu Hause um alles.” Als hätte der Krieg in einem anderen Land stattgefunden. Dann setzt sich Alexandra an Nikolas Schreibtisch und beginnt mit dem Regieren. Das ist lächerlich. Es gab eine Regierung, es gab die Duma, einen Senat und ein Heer von Staatsdienern, die zwar durch das riesige Netzwerk Alexandras beeinflusst wurden, doch die Zarin hat die Regierung nie offiziell kontrolliert.
Als die Zarenwitwe Maria Fjodorowna nach Mogilew kommt, um ihren toten Sohn zu sehen, öffnet ihr ein afrikanischer Diener die Türe. Der Zar hatte niemals Dienstpersonal aus Afrika in seinen Privaträumen.
Es ist lustig, dass Graf Jussow eine moderne Waffe gegen Rasputin richtet. Tatsächlich wurde der wohl mit einem Webley Revolver, Kaliber 455, erschossen. Eine nicht sehr schwer zu beschaffende Requisite…
Webley .455
Alexei Schtschukin/TASS„Ein Kind wird von Kugeln auf einem Zaun in der Nähe des Winterpalastes durchsiebt", sagt Dr. De Orellana und bezieht sich nicht auf Fakten, sondern auf eine Geschichte oder Legende, von der selbst Russen nichts wissen!
Wenn die Romanows in der Serie in Ipatjew-Haus in Jekaterinburg ankommen, tragen sie Lumpen. Tatsächlich ging es ihnen viel besser - als die Kinder zu Ipatjew und ihren Eltern gebracht wurden, reisten sie mit 26 Personen im Gefolge, berichtete Nikolai Sokolow, der sowjetische Ermittler beim Mord an der Zarenfamilie.
Wenn die Historiker der Serie über das Schicksal der kaiserlichen Familie in Jekaterinburg sprechen, vergessen sie zu erwähnen, dass die Romanows auch vor dem russischen Volkszorn geschützt werden mussten. Die Bolschewiki mussten eine wütende und rachsüchtige Menschenmenge zurückhalten, als das Zarenpaar von Tobolsk nach Jekaterinburg kam. Der Aufstand konnte nur gestoppt werden, indem Geschütze aufgefahren wurden. Der Zug mit den Zaren an Bord musste eine Station weiter fahren, um Nikolaus und Alexandra vor dem Mob zu retten.
Dr. Hetherington bezeichnet Nikolaus als „Gottes Vertreter auf Erden". Das ist eine verzerrte Ansicht der Rolle des Zaren. Während der Krönungszeremonie wurden russische Zaren zum zweiten Mal in ihrem Leben gesalbt - um Gottes Willen zu erfüllen, eine Mission und Berufung, die mit der des Priestertums vergleichbar ist.
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