Seitdem jemand einen Screenshot ins Internet gestellt hat, der eine Szene aus der Netflix-Serie „Die letzten Zaren” zeigt, kann kein Russe diesen Film mehr ernst nehmen.
114 Jahre sind vergangen. Und nichts hat sich verändert...
Adrian J. McDowall/Netflix, 2019; Getty ImagesFür diesen ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. In der Serie, die historische Genauigkeit für sich in Anspruch nimmt, wird ein Ausschnitt aus dem Jahre 1905 gezeigt, auf dem der Rote Platz mit dem Lenin-Mausoleum zu sehen ist. Dumm gelaufen, denn das stand damals gar nicht dort. Im Gegenteil: Lenin war noch quicklebendig. Dieses Bild wurde wahrscheinlich von „Getty Images” gekauft. Wen kümmert das schon?
Dieses „blöde“ Mausoleum aus dem Jahr 1905 hat gute Chancen, ein Symbol für die ganze Sendung zu werden, denn die Dummheit hört damit längst nicht auf.
„Die letzten Zaren” war ein ehrgeiziges Projekt: Das Nutopia-Studio wollte ein neues Genre schaffen, die Megadoku. Episches Kino und actionreiches Drama sollten mit einem High-End-Dokumentarfilm verbunden werden.
Die Serie zeigt die gesamte Regierungszeit von Russlands letztem Zaren Nikolaus II., von der Krönung im Jahr 1894 bis zur Ermordung 1918.
Die Revolution von 1917, die den Untergang des Zarenreiches brachte und zur Gründung der UdSSR führte, ist nicht nur für die Geschichte Russlands einer der wichtigsten Meilensteine, sondern hat die gesamte Weltgeschichte in großem Maße beeinflusst.
Die Ereignisse, die zur Revolution führten und die Nikolaus II. während seiner ganzen Regierungszeit versuchte, aufzuhalten, was die Revolution letztlich nur beschleunigte, sind für die moderne Weltgeschichte sehr bedeutend. Es ist eine ernsthafte Herausforderung, das in einer Spielfilmdoku darzustellen. Dieser Herausforderung hat sich „Die letzten Zaren” gestellt, ist jedoch kläglich gescheitert. Warum?
Erstens ist die Serie voller ärgerlicher historischer Ungenauigkeiten. Es sind keine Verzerrungen, im Gegenteil, der Film versucht mit einigen populären Mythen aufzuräumen. Dazu gehört die Legende, dass Grigori Rasputin, der mysteriöse Günstling der Zarenfamilie, eine Affäre mit Zarin Alexandra gehabt habe. Unnötige Fehler, die beim Aufdecken solcher Legenden gemacht werden, machen jedoch alle Bemühungen um historische Genauigkeit zunichte.
Ich bin kein studierter Historiker, doch selbst mir fallen einige dieser Fehler auf. So wird die Duma als „gewählte Regierung” bezeichnet, obwohl sie doch das Parlament war, wie leicht bei Google herauszufinden ist. Noch heute heißt unser Parlament Duma.
Besonders irritierend und absurd wird es, wenn die am Zarenhof lebenden Töchter des Königs von Montenegro, Anastasia und Milica, als „Schwarze Prinzessinnen” bezeichnet werden. Diesen Spitznamen hat es nie gegeben. Es scheint, die Autoren haben das russische Wort „tschornije”, zu Deutsch: „schwarze“, mit „tschernogorskije”, zu Deutsch: „montenegrinische“, verwechselt. Ich frage mich, ob bei dieser Megadoku jemals eine russischsprachige Person, geschweige denn ein Historiker, zu Rate gezogen wurde.
Einige Szenen sind historisch unwahrscheinlich und dienen offenbar nur dem Zweck, Sex in die Serie zu bringen. So versucht Rasputin, die Tochter des Premierministers zu verführen oder Nikolaus‘ Tochter Maria hat eine Affäre mit einem bolschewistischen Wächter. Der leidenschaftliche Revolutionär Iwan Kaljajew, der als hochintelligenter Mann beschrieben wird, ruft vor seiner Erschießung „F*ck den Zaren”. Zunächst einmal wurde er erhängt. Und die Ausdrucksweise der russischen Intelligenz war damals eine andere. Aber wen interessiert das schon? In der Serie rufen sogar die Adeligen laufend „F*ck” und „Sch…”. Um ehrlich zu sein, während ich die Sendung ansah, habe ich das auch getan.
Zweitens wird der Serie „Die letzten Zaren” ihr Format zum Verhängnis, was letztlich das besondere an der Serie sein sollte. Die Geschichte der Regierungszeit von Nikolaus II., in der er, seine Familie, Rasputin und alle anderen wichtigen historischen Personen von Schauspielern dargestellt werden, wird kombiniert mit dem Auftritt einer Reihe westlicher Historiker. An erster Stelle steht dabei Simon Sebag Montefiore, Autor von „Die Romanows 1613–1918”, die dem Publikum erklären, in welchem größeren Zusammenhang die Ereignisse im damaligen Russland stehen.
Ziel war es, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und eine Geschichte wie „Game of Thrones” mit liebenswerten Charakteren, Sex und Gewalt zu schaffen, aber gleichzeitig lehrreich und ernsthaft zu sein. Was wir als Ergebnis haben, ist eine Szene, in der Nikolaus seine Frau leidenschaftlich liebt, gefolgt von Montefiores Kopf, der davon spricht, dass Russland immer tiefer in der Wirtschaftskrise versinkt. Diese beiden Welten funktionieren nicht zusammen. Die Erzählung wird dadurch zu fragmentiert und chaotisch.
Drittens enthält die Serie von Netflix eine Menge von dem, was wir in Russland als „kljukwa”, zu Deutsch „Preiselbeere“, bezeichnen - zutiefst stereotype Darstellungen Russlands, seiner Menschen und der Lebensumstände. Das Leben der Bauern wird wie ein Disneyparadies gezeigt, die Herrscher leben in Palästen und ersticken fast an ihrem Gold und den Juwelen und die bösen Russen, vor allem die Bolschewiken, trinken Unmengen Alkohol. Kommt schon Leute, wir würden gerne mal was Neues sehen!
Außerdem wird die Sendung ihrem eigenen Anspruch, das tragische Ende einer europäischen Herrscherdynastie in nur sechs Folgen zu erzählen, nicht gerecht. Wichtige Figuren sind zu stark vereinfacht und wirken wie Comic-Charaktere: „ein guter demokratischer Berater von Romanow", „ein schlechter autokratischer Berater von Romanow", „ein rücksichtsloser Revolutionär".
Wenn es etwas Gutes an „Die letzten Zaren” gibt, dann ist es die Haltung der Macher gegenüber den Protagonisten. Sie zeigen Nikolaus II. als gutwilligen, aber schwachen Mann, der leider unfähig ist, sein Land zu regieren.
Die Autoren sympathisieren mit der Zarenfamilie, aber auch mit denen, die deren Inkompetenz nicht mehr ertragen. Selbst Jakow Jurowski, ein Bolschewik, der für die Hinrichtung der Zarenfamilie verantwortlich war, wird als Ehrenmann mit Prinzipien dargestellt. Das war die Tragik der russischen Revolution. Es gab auf beiden Seiten gute Menschen, doch die Zeit, in der sie lebten, machte sie zu Feinden, die sich gegenseitig rücksichtslos töteten. Das wollte „Die letzten Zaren” meiner Meinung nach wohl auch vermitteln.
Doch das ist nicht gut gelungen. Zahlreiche historische Ungenauigkeiten, allgemeine Nachlässigkeit und der Versuch, die sehr lange und komplizierte Geschichte kurz zu fassen, haben eine an sich gute Idee zunichte gemacht. Vielleicht wird es in Zukunft anderen, ausländischen oder russischen, Drehbuchschreibern gelingen, unsere epische und schreckliche Geschichte besser darzustellen.
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