Diesen Scherz über die russische Politik gibt es schon lange. Der Scherz wurde zum Phänomen. Alle Führer Russlands und der Sowjetunion folgten einem Muster: Auf einen Staatschef ohne Kopfbehaarung folgte einer mit Haaren.
Es begann 1825. Nikolaus I. saß auf dem russischen Kaiserthron. Er war weitgehend kahlköpfig. Sein Sohn, der zukünftige Kaiser Alexander II., hatte dagegen Haare. Alexanders Thronfolger, sein Sohn Alexander III., hatte eine Glatze und der auf ihn folgende Nikolaus II. wieder Haare.
Zwischen Zar und Bolschewik
Als das russische Reich unterging, kamen neue Führer, die der Sowjetunion. Doch auch unter ihnen setzte sich das seltsame Muster fort, so lange, bis es schließlich zu einer Gesetzmäßigkeit oder zum historischen Paradoxon geworden ist (bis es gebrochen wird).
Der haarige Nikolaus II. war der letzte Kaiser. Lenin, der erste Führer des bolschewistischen Staates hatte dagegen eine Glatze. Und auch später gab es keine Ausnahme.
Nikolaus II. verzichtete zugunsten seines Bruders, Großherzog Michael Alexandrowitsch, auf den Thron. Doch in seinem letzten Befehl ernannte er Fürst Georgi Lwow zum Chef der Übergangsregierung. Der damals 55-jährige hatte eine sehr, sehr hohe Stirn. Im Juli 1917 verließ er die Regierung. Sein Nachfolger Alexander Kerenski wurde haariger Premierminister.
Nikolaus‘ Bruder Großherzog Michail Alexandrowitsch, dem er den Thron überließ, hatte eine Glatze. Am Tag nach Nikolaus‘ Abdankung, am 3. März 1917, erklärte Michael Alexandrowitsch den Thronverzicht und überließ die Macht der Übergangsregierung. Der einzige, der sich nach 1917 noch einmal zum russischen Kaiser (im Exil) erklärt hatte, am 31. August 1924, war Großherzog Kirill Wladimirowitsch, ein Cousin Nikolaus‘, der volles Haupthaar hatte.
„Die Herrschaft des Kopfes“ zu Sowjetzeiten
Während der Sowjetzeit nach Lenin gilt das Muster seltsamerweise auch für die Generalsekretäre des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - die wahren Führer des Sowjetstaates.
Der erste Generalsekretär des Zentralkomitees war Joseph Stalin, Lenins Nachfolger, und er hatte (wieder) Haare.
Nach Stalins Tod im März 1953 gab es keinen offiziellen Nachfolger. Unmittelbar nach seinem Tod hatte Lawrenti Beria die größte Macht im Staat. Und er hatte eine Glatze. Am 26. Juni 1953 wurde Beria verhaftet, vor Gericht gestellt und hingerichtet. Georgi Malenkow (haarig) wurde für kurze Zeit zum Sowjetführer. Im September 1953 wurde Nikita Chruschtschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees gewählt. Er hatte keine Haare.
Und es wiederholte sich: Leonid Breschnew hatte Haare, Juri Andropow war barhäuptig, Konstantin Tschernenko hatte Haare und Michail Gorbatschow eine Glatze.
Postsowjetische Zeiten
Selbst in den wilden Zeiten in Russland ab 1991 gab es keine Abweichung vom mysteriösen Muster. Als Michail Gorbatschow (kahlköpfig) im August 1991 vom Staatskomitee als Präsident der UdSSR entmachtet wurde, übernahm der haarige Gennadi Janajew, der einzige Vizepräsident der UdSSR.
Nach dem 21. August 1991 kehrte der kahle Gorbatschow an die Macht zurück, doch im Dezember 1991 löste sich die UdSSR auf, und Boris Jelzin mit seiner berühmten eisengrauen Tolle wurde der erste Präsident Russlands.
Jelzin trat für einen Tag, vom 5. bis 6. November 1996, von seinem Amt zurück, weil er sich einer Herzoperation unterziehen musste. Er ernannte den damaligen Regierungschef Wiktor Tschernomyrdin zum Präsidenten. Dieser hatte … eine Glatze! Nach der erfolgreichen Operation übernahm Jelzin am 6. November wieder die Amtsgeschäfte. Ihm war kein Haar gekrümmt worden.
Wladimir Putin, der nach Jelzin zum Präsidenten gewählt wurde, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine beginnende Glatze. In den Jahren 2008 bis 2012 war Dimitri Medwedew (mit Haaren) Präsident, bevor Putin 2012 wieder auf den Posten gewählt wurde, der inzwischen noch weniger Haare hatte.
Seit 1825 hat es von dieser seltsamen Haar-Regel keine Ausnahme gegeben. Die mathematische Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Muster bei 13 aufeinanderfolgenden Regierungswechseln (von Nikolaus I. bis zur gegenwärtigen Regierung von Wladimir Putin) zufällig ist, liegt unter 0,00025.
Niemand weiß, woran es liegt. Doch in den 1970er und 1980er Jahren war es für viele offensichtlich geworden.