Der Mann des Jahres: Warum das „Time Magazine“ gleich zwei Mal Josef Stalin wählte

Geschichte
ALBINA ANDREJEWA
Vom „meistgehassten Mann“ zum heldenhaften Verteidiger des Vaterlandes: Die Haltung des „Time Magazine“ gegenüber Josef Stalin änderte sich im Laufe der Jahre drastisch. Aber wieso?

Der sowjetische Führer Josef Stalin wird heute vor allem als rücksichtsloser Diktator beschrieben. Da ist es erstaunlich, dass sein Konterfei gleich zwei Mal das legendäre, rot umrandete Cover des „Time Magazines“ zierte. Er ist einer von vier Nicht-Amerikanern, der es gleich mehrmals auf den Titel geschafft hat. 

1940 – für den Nichtangriffspakt mit Deutschland 

Das Jahr 1939: Hitler hatte gerade die Tschechoslowakei eingenommen und die zukünftigen Verbündeten - Frankreich, Großbritannien und die UdSSR - verhandelten über einen multilateralen Vertrag zur Verteidigung, um Nazi-Deutschland zu stoppen.

Aber die Gespräche stockten. Frankreich und Großbritannien hatten die Befürchtung, Stalin würde die militärische Unterstützung nutzen, um Nachbarstaaten zu besetzen. Sie hatten die ursprüngliche Idee der Kommunisten einer weltweiten Revolution nicht vergessen. Außerdem fragten sie sich, ob die Rote Armee nach den stalinistischen Säuberungen tatsächlich noch schlagkräftig genug war. 

Stalin seinerseits vermutete, dass die beiden anderen Staaten hofften, Hitlers Expansion nach Osten zu steuern, damit sich Kommunisten und Nazis gegenseitig schwächen und Westeuropa alle Schwierigkeiten ersparen würden. Auch er hatte allen Grund an den potenziellen Partnern zu zweifeln. Beide europäischen Mächte hatten gerade ihren Verbündeten Tschechoslowakei verraten und standen untätig da, als Hitler die Faschisten in Spanien unterstützte, Österreich annektierte und den Versailler-Vertrag in Stücke riss.

In diesem Klima machte Stalin einen Schachzug und entschied sich für einen Nichtangriffspakt mit Hitler statt zu einer womöglich wackeligen Allianz mit Großbritannien und Frankreich. Mit dem Pakt kaufte er Zeit, um sich auf den Krieg vorzubereiten. Er verlegte nach dem geheimen Protokoll die sowjetischen Grenzen kilometerweit nach Westen, um das Baltikum, Ostpolen und Teile Rumäniens zu annektieren. Hitler seinerseits sicherte so die Ostfront und war frei, im Westen Krieg zu führen.

Die beiden Führer haben auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit wiederbelebt. Vier Tage vor dem Nichtangriffsvertrag unterzeichneten Moskau und Berlin ein umfangreiches Handelsabkommen, nach dem die UdSSR das Dritte Reich mit Rohstoffen für seine Maschinen und Fabriken versorgen sollte. Für Stalin bedeutete dies, dass er sich auf deutsche Technologie verlassen konnte, um die Industrialisierung der UdSSR abzuschließen, während Hitler seinerseits Zugang zu den riesigen Mengen sowjetischer Rohstoffe erhielt, um seine Kriegswirtschaft aufrechtzuerhalten.

Zu sagen, dass der Pakt ein Schock war, wäre untertrieben. Das „Time Magazine“ bezeichnete es als eine „diplomatische Demarche, die buchstäblich die Welt erschüttert“ und kürte Stalin zum „Mann des Jahres“, weil er im Alleingang „das Kräfteverhältnis Europas verändert" und damit Deutschland den Weg freimachte für den Startschuss zum Zweiten Weltkrieg.  

Das „Time Magazine“ hatte eine eigene Vermutung, warum Stalin den Deal mit Hitler einging. „Lange Zeit waren die Russen besessen von dem Albtraum einer Vereinigung kapitalistischer Nationen, die sich gegen die Sowjetunion wenden würden“, heißt es in der Zeitschrift. Vielleicht war es „diese eindringliche Angst“, die Stalin dazu veranlasste, „Maßnahmen zu ergreifen ... gegen leichte Angriffe“. 

Eines ist jedoch klar: Die folgenden Ereignisse sind die osteuropäischen Staaten teuer zu stehen gekommen. Nachdem Stalin ihre Gebiete annektiert hatte, begann er mit Massenverhaftungen und Deportationen, um jeglichen Widerstand niederzuschlagen, bevor er Gestalt annehmen konnte. In Polen wurden bei dem Massaker von Katyn 22.000 größtenteils Offiziere hingerichtet und zwischen September 1939 und Juni 1941 rund 325.000 einfache Bürger in spezielle Siedlungen und Lager geschickt, schätzt die Menschenrechtsorganisation Memorial. In Estland wurden im gleichen Zeitraum 10.000 Menschen abgeschoben, und in Lettland und Litauen wurden 17.000 bzw. 17.000 Menschen deportiert. Mindestens 30.000 Bürger wurden ebenfalls aus den annektierten Regionen Rumäniens deportiert.

1989 verurteilte die Sowjetunion die Geheimprotokolle des Pakts mit der Begründung, sie seien illegal und verstießen gegen die Souveränität und territoriale Integrität anderer Nationen. Im Jahr 1940 fällte das „Time Magazine“ ein viel härteres Urteil, wonach Stalin durch die Angriffe auf seine Nachbarn die Sozialisten weltweit verraten habe. Der Sowjetführer wurde als der „meistgehasste Mann der Welt“ bezeichnet. 

>>> Pakt mit dem Teufel: Warum die UdSSR sich mit Hitler verbündete

1943 – für die heldenhafte Verteidigung von Stalingrad 

Aber wie auch immer die vernichtende Beschreibung der „Person des Jahres“ im Jahr 1940 gelautet hatte, nur drei Jahre später entdeckte das „Time Magazine“ Stalins andere Seite. Die des starken Führers, des unermüdlichen Staatsmannes, der sich gegen die Nazis stellte, um sie „in Staub zu verwandeln“. 

Die Zeitschrift geht so weit zu sagen, dass Stalin nicht nur Russland, sondern den gesamten europäischen Kontinent gerettet habe, indem er in Stalingrad standhaft geblieben ist. 

„Wären deutsche Legionen am stahlhartem Stalingrad vorbeigefegt und Russlands Angriffskraft aufgelöst worden, wäre Hitler nicht nur Mann des Jahres gewesen, sondern auch der unbestrittene Herrscher über Europa“, beschrieb das „Time Magazine“ die größte und blutigste Schlacht im gesamten Zweiten Weltkrieg. Jedoch: „Stalin hat ihn aufgehalten.“ 

In den brennenden, blutgetränkten Straßen von Stalingrad haben die Sowjets das Rückgrat von Hitlers Kriegsmaschinerie gebrochen. Insgesamt verloren die Deutschen und ihre Verbündeten dort bis zu 850.000 Soldaten - im Kampf getötet, verwundet und gefangen genommen. Die Rote Armee hatte 1,1 Millionen Opfer zu beklagen, darunter diejenigen, die schwere Verletzungen erlitten hatten und auf dem Schlachtfeld oder in Gefangenschaft starben. Auch die Verluste in der Zivilbevölkerung waren schwerwiegend, da Tausende Menschen bei den erbarmungslosen  Bombenangriffen, an Krankheiten und Hunger oder direkt durch die Invasoren starben.

Nach fünf Monaten brutaler Kämpfe brachte Stalin Hitler eine Niederlage bei, von der sich der Führer des Dritten Reichs nicht mehr erholen konnte. Stalin und sein Volk hatten nicht viel mehr als den unbedingten Willen gehabt, dies zu tun.  

Ein großer Teil der Armee war untergegangen, ebenso Ackerland und Industrie. Millionen gingen an die Front, zu Hause arbeiteten die Männer Seite an Seite mit den Frauen und manchmal auch Kindern in den Wäldern und auf den Feldern. Die US-Hilfe würde zu spät kommen, gestört durch deutsche Angriffe auf die Strecken, und eine zweite europäische Front würde erst 1944 eröffnet werden…

„Nur Stalin weiß, wie er es geschafft hat, aus 1942 ein besseres Jahr für Russland zu machen als 1941“, heißt es im Artikel des „Time Magazines“. „Doch er hat es geschafft. Stalingrad hielt stand und das russische Volk ebenfalls.“ 

„Der großartige Wille des russischen Volkes, Widerstand zu leisten“ war der Schlüssel, aber auch Stalins staatsmännisches Verhalten und seine geschickte Diplomatie, schrieb „Time“. Während sein Volk, unterernährt und überarbeitet, auf dem Schlachtfeld kämpfte, entwickelte er Strategien, wählte fähige Armeeführer aus und stärkte die Moral der Nation, indem er Hilfe von Alliierten versprach - und unermüdlich darauf drängte. 

>>> 75 Jahre Stalingrad: Drei Faktoren, die der Roten Armee zum Sieg verhalfen

So spielten die Werke und Fabriken, die Stalin rücksichtslos in seinem Bestreben einer schnellen Industrialisierung gebaut hatte, 1942 eine große Rolle, als die UdSSR am seidenen Faden hing und sich auf die Alliierten nicht wirklich verlassen konnte. Die weltüberraschende Stärke der UdSSR im Zweiten Weltkrieg hat gezeigt, dass es Stalin tatsächlich gelungen war, die UdSSR „zu einer der vier großen Industriemächte der Welt“ zu machen. Das „Time Magazine“ ging sogar so weit zu behaupten, Stalins „harte“ Methoden hätten sich „ausgezahlt“ – angesichts des hohen Preises, den die Menschen zur Verwirklichung seiner hochfliegenden Projekte zahlen mussten, eigentlich etwas Unaussprechliches. 

Hier sind sie also, zwei Ausgaben des „Time Magazines“ und zwei Geschichten darüber, wie Josef Stalin die Welt entsetzte und erstaunte. Zuerst als brutaler Tyrann und dann als mutiger Kämpfer, der seine Nation zum Sieg führte. Ein Opportunist und ein kluger Staatsmann, ein rücksichtsloser Diktator und Verteidiger des Vaterlandes. Der Drahtzieher der massenhaften Säuberungen und der Mann hinter der Industrialisierung. 80 Jahre später debattiert die Welt immer noch darüber, an welchen Teil seines Erbes man sich erinnern soll.

>>> „Unternehmen Barbarossa“: Wie viel wusste Stalin wirklich?