In gewisser Weise hatte es eine gewisse Ästhetik. Sie betreten einen Raum und finden dort einen Stapel Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, auf einem Regal oder einfach auf dem Boden. Manchmal gab es dort sogar ein ordentliches und gut sortiertes Bücherregal. Und viele Zeitschriften. Wenn Sie nun denken, sie befinden sich in einer kleinen Bibliothek, liegen Sie falsch. Es war nur eine typisch sowjetische Toilette. Für die Sowjetbürger war sie oft ein alternativer Lesesaal. Immerhin waren wir Lese-Weltmeister. Schon allein deshalb, weil es im Fernsehen nichts Interessantes zu sehen gab und in den Kinos selten etwas Gutes lief.
Die meisten Familien in der Sowjetunion hatten mehrere Zeitungen und Zeitschriften abonniert. Aber wie fanden sie Zeit, sie alle zu lesen? Man konnte zwar auf dem Weg zur Arbeit lesen. Aber etwas im Badezimmer oder im WC zu lesen war eine weitaus bequemere Option. Auf diese Weise fanden Zeitungen und Zeitschriften den Weg ins Badezimmer oder auf die Toilette und verbrachten manchmal Jahre dort.
Die Sowjetbürger lasen auch die Hälfte ihrer Bücher auf der Toilette. Warum? Die Antwort ist einfach. Angesichts der Wohnverhältnisse, die die meisten Menschen im Land hatten, war es nicht immer möglich, eine ruhige Ecke zu finden, um ein Buch zu genießen, und sich nicht von einem jüngeren Geschwisterchen, das in der Nähe spielt, dem Murmeln einer mürrischen Großmutter oder dem Fluchen eines leicht beschwipsten Familienoberhauptes stören zu lassen. Es war oft der Fall, dass große Familien unter sehr beengten Verhältnissen lebten.
Wo also fand ein begeisterter Leser seine Zuflucht mit den Romanen von Thomas Mayne Reid, Jules Verne oder sogar Leo Tolstoi? Auf der Toilette!
Sie war der einzige ruhige Ort in der Wohnung. Zwar würde eine halbe Stunde später jemand an die Tür klopfen und verlangen, den Raum zu benutzen. Aber das gab dem Leser immer noch mindestens 30 Minuten Ruhe und Frieden.
Außerdem war das WC ein Ort, an dem man auch Geheimnisse haben konnte. Hier konnte ein Teenager etwa im „Playboy“ blättern, den er sich für einen Tag von einem Freund geliehen hatte, dessen Eltern das Glück hatten, ins Ausland reisen zu können.
Oder ein Student könnte ein bisschen Samisdat lesen, d. h. Literatur, die in der UdSSR verboten war, zum Beispiel Bücher von Alexander Solschenizyn oder Wladimir Nabokow.
Ja, es gab das Problem, diesen Lesestoff sicher auf der Toilette zu verstauen, doch dafür gab es Lösungen. Unter all den Gegenständen, mit denen sowjetische Toiletten oft zugestellt wurden, fand sich auch ein Versteck für verbotene Literatur.
Aber kommen wir zurück zu den Zeitungen. Die Sache ist, dass sie oft eine Doppelfunktion ausübten.
Die Sowjetunion begann erst 1969 mit der Massenproduktion von Toilettenpapier. Ja, Juri Gagarin war bereits im Weltraum gewesen, wir waren die weltweit führende Wissenschafts- und Technologienation, aber die Menschen in der UdSSR hatten keinen ausreichenden Vorrat an Toilettenpapier.
Es ist also nicht schwer zu erraten, welchen anderen Zweck Zeitungen hatten.
Dies gilt umso mehr, als Toilettenpapier ein Mangelprodukt in der Sowjetunion blieb und es nicht immer leicht war, es in Geschäften zu finden. Es wurde gehortet. Diejenigen, die nicht so viel Glück hatten, Toilettenpapier zu ergattern, konnten immer ihre Zeitungen benutzen.
Schließlich waren Zeitungen in der UdSSR nie Mangelware. Manchmal mussten Leute bestimmte Veröffentlichungen abonnieren. Zum Beispiel sollte jemand, der bei den Eisenbahnen arbeitet, ein Abonnement für die Unternehmenszeitschrift „Gudok“ haben. Während jedes Mitglied der Kommunistischen Partei die „Prawda“-Zeitung abonnieren sollte. Letztere war unmöglich zu lesen, da sie in sowjetischer Amtssprache verfasst war. Aber für den anderen Verwendungszweck war sie gut genug. Deshalb haben viele unglückliche Mitglieder der Kommunistischen Partei der Sowjetunion das Sprachrohr der Partei auf dem stillen Örtchen gelesen.
Unter den „Kennern“ gab es sogar Diskussionen darüber, welche Publikation auf weicherem Papier gedruckt und daher besser für das WC geeignet war.
Das Lesen auf der Toilette ist nicht ausgestorben und immer noch sehr beliebt. Abgesehen davon, dass Bücher heutzutage für diesen Zeitvertreib weniger eine bevorzugte Lektüre sind. Frauen neigen dazu, Stapel von Hochglanzmagazinen in ihren Badezimmern oder Toiletten aufzubewahren. Es gibt auch spezielle Bücher zum Lesen im Badezimmer, meistens Detektivgeschichten und Thriller im Taschenbuch-Format. Manche haben Bücher, die sie im Bett lesen und andere, die sie auf der Toilette lesen.
Dies scheint überall auf der Welt zuzutreffen.
Toiletten in Russland sehen also nicht mehr wie kleine Bibliotheken aus. Außerdem hat heutzutage fast jeder ein Smartphone.
… Als ich 14 war, habe ich beschlossen, unsere alte Toilettentür zu dekorieren. Ich nahm einen Stapel alter Zeitungen, eine Schere und machte mich an die Arbeit, schnitt Schlagzeilen aus und versuchte, die aufregenderen auszuwählen, wie zum Beispiel: „Vorwärts zu neuen Errungenschaften!" Dann klebte ich diese Zusammenstellung von Schlagzeilen auf die Toilettentür und versuchte, keinen Platz frei zu lassen. Ich bin mir sicher, dass das Ergebnis heutzutage als Kunstinstallation beschrieben würde und vielleicht sogar als Kunstwerk verkauft werden könnte, während ich ein gefeierter Künstler wäre. Aber ich war nur ein lebenslustiger sowjetischer Teenager, der der Idee des Lesens auf der Toilette auf ästhetische Weise Absurdität verleihen wollte.
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