Warum ein russisch-orthodoxer Bischof mit dem Stalinpreis ausgezeichnet wurde

Geschichte
ALEXANDRA GUSEWA
Erzbischof Lukas war eine beeindruckende Persönlichkeit, ein brillanter Chirurg und überzeugter orthodoxer Christ. Zu Lebzeiten wurde er sogar von Stalin, seinem ideologischen Feind, bewundert. Nach seinem Tod wurde er zu einem Heiligen erklärt.

Walentin Woino-Jassenezki promovierte 1915 in Medizin und 1959 in Theologie. Er verbrachte mehr als zehn Jahre im Gefängnis und im Exil und arbeitete während mehrerer Kriege als Feldchirurg. Später wurde er unter dem Namen Erzbischof Lukas bekannt. Zum Erzbischof ernannt wurde er 1946 - im selben Jahr, in dem er mit dem Stalinpreis ausgezeichnet wurde. 

Wie Walentin Woino-Jassenezki Arzt wurde

Woino-Jassenezki  wurde 1877 in Kertsch, einer Stadt auf der Krim im Russischen Reich, geboren. Sein Vater stammte aus einer russifizierten polnischen Adelsfamilie und war als Apotheker tätig. Später zog die Familie nach Kiew, wo Walentin das Gymnasium absolvierte und sich zwischen Kunst und Medizin schwankend für letzteren als den sozial nützlichsten Beruf entschied.

1904 nahm er als Arzt des Roten Kreuzes am Russisch-Japanischen Krieg teil und operierte  verwundete Soldaten. Später arbeitete er in Krankenhäusern in ganz Russland und begann gleichzeitig mit wissenschaftlichen Forschungen. Er reiste nach Moskau und St. Petersburg, recherchierte in Bibliotheken, verfasste Artikel und hielt Vorträge. Er promovierte in Medizinwissenschaft. Walentin war verheiratet und hatte Kinder. 

1917 ging er mit seiner Familie in die zentralasiatische Stadt Taschkent, um dort ein Krankenhaus aufzubauen. Seine Frau war an Tuberkulose erkrankt und er hoffte, dass das südliche Klima sie heilen würde. In Taschkent wurde Woino-Jassenezki von der Revolution 1917 und dem Bürgerkrieg eingeholt. Erneut operierte er verwundete Soldaten und unterrichtete gleichzeitig an der neu gegründeten turkestanischen Universität in der Abteilung für operative Chirurgie.

Wie aus Walentin Lukas wurde

Walentin war zwar mit den Traditionen der orthodoxen Kirche aufgewachsen, fand jedoch erst 1919 nach dem Tod seiner Frau zu tiefem Glauben. Er begann, häufig die Kirche zu besuchen und am Gemeindeleben teilzunehmen. Die Bischöfe schlugen ihm vor, Priester zu werden - er stimmte zu, wurde Mönch und nahm den Namen Lukas an. 

Von nun an trug er sowohl bei den Gottesdiensten als auch im Krankenhaus ein priesterliches Gewand und ein Kreuz um den Hals. Vor Operationen bekreuzigte er sich und segnete die Patienten, unabhängig von deren Glauben oder Nicht-Glauben.  Nachdem der amtierende Bischof 1923 von der Geheimpolizei gezwungen worden war, seinen Posten zu verlassen, wurde Lukas angeboten, die Leitung der Diözese Taschkent zu übernehmen. 

Von diesem Moment an geriet Erzbischof Lukas in Schwierigkeiten mit den sowjetischen Behörden. Er wurde während einer Messe verhaftet und zum Verhör nach Moskau gebracht. Dort erklärte er aufrichtig, dass „die Arbeitermacht die beste und gerechteste Form der Macht“ sei und dass ihm die Ideen des Kommunismus sehr am Herzen lägen. Aber er lehnte die revolutionären Methoden und Gewalt kategorisch ab. 

In seiner Autobiographie erinnerte sich Erzbischof Lukas daran, dass der Tschekist zu verstehen versuchte, ob er Freund oder Feind der Sowjetmacht sei. „Sowohl Freund als auch Feind“, antwortete Erzbischof Lukas. „Wenn ich kein Christ gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich Kommunist geworden. Aber Sie betreiben die Verfolgung des Christentums, also bin ich natürlich nicht Ihr Freund.“

Nach einigem Zögern verbannten die Behörden Erzbischof Lukas für zwei Jahre nach Sibirien. In der abgelegenen Stadt Turuchansk wurde Erzbischof Lukas ein einfacher Arzt im einzigen Krankenhaus. Dabei waren seine wissenschaftlichen Abhandlungen über Chirurgie schon in ausländischen Zeitschriften veröffentlicht wurden.

Wie ein Priester den Stalinpreis gewann

Während des Russisch-Japanischen Krieges 1904-1905, lange vor der Entdeckung der Antibiotika in den 1920er Jahren, begann Erzbischof Lukas (damals noch Valentin) mit seinen Studien darüber, wie man dem eitrigen Prozess, an dem viele verwundete Soldaten an der Front und auch die Operierten starben, chirurgisch entgegenwirken konnte.

Während des Bürgerkriegs in Russland forschte er weiter und suchte nach Lösungen. Im sibirischen Exil begann er schließlich mit der Abfassung des Hauptwerks, das sein Lebenswerk darstellte – „Essays on Purulent Surgery“ (zu Deutsch: „Abhandlungen über die eitrige Chirurgie“). Diese Monografie wurde zur führenden Enzyklopädie auf diesem Gebiet, und der Autor berichtete von vielen Fällen aus seiner eigenen medizinischen Praxis. 

Erzbischof Lukas war nun nicht mehr für eine Diözese zuständig, aber er diente und predigte weiter. Im Jahr 1937, als Stalins Säuberungen begannen, wurde Erzbischof Lukas erneut wegen seiner religiösen Aktivitäten verhaftet, und durch einen glücklichen Zufall erhielt er eine (für damalige Verhältnisse) erneut relativ milde Strafe - eine fünfjährige Verbannung nach Sibirien. 

Erzbischof Lukas begann in einem Militärkrankenhaus zu arbeiten, und Anfang der 1940er Jahre wurde er Chefarzt aller Krankenhäuser in der Region Krasnojarsk und gleichzeitig Erzbischof von Krasnojarsk. Er bat die Behörden, ihn während des Zweiten Weltkriegs an die Front zu schicken, aber trotz seiner beeindruckenden Erfahrung wurde er im Exil gelassen. Dennoch gab er nicht auf und sammelte Gelder zur Unterstützung der Front.

1946 wurde Erzbischof Lukas als einziger Priester mit einer der höchsten Formen der zivilen Anerkennung in der UdSSR ausgezeichnet - dem Stalinpreis. Die Auszeichnung wurde speziell für seine „Aufsätze über die Eiterchirurgie“ und andere wissenschaftliche Arbeiten verliehen. Die beträchtliche Summe des Preisgeldes spendete er für Waisenhäuser.

Nachdem Erzbischof Lukas den Preis erhalten hatte und aus dem Exil zurückgekehrt war, schickte ihn der Patriarch in die Diözese Simferopol auf der Krim, wo er das örtliche Militärkrankenhaus beriet. Im Jahr 1955 erblindete Erzbischof Lukas und konnte nicht mehr operieren, aber er predigte weiter.

Nachdem er ein Leben lang durch ganz Russland gezogen war, starb er 1961 an seinem Geburtsort auf der Krim.

Wie Lukas ein Heiliger wurde

Eines Tages im Jahr 1921 wurde der junge Lukas gebeten, als Sachverständiger in einem fingierten „Ärzteprozess“ aufzutreten, bei dem die beschuldigten Sanitätsoffiziere angeklagt waren, während des Bürgerkriegs absichtlich verwundete Soldaten infiziert zu haben. In seinem Buch „The Life of Woino-Jassenezki , Archbishop and Surgeon“ (zu Deutsch „Das Leben von Woino-Jassenezki, Erzbischof und Chirurg“) berichtet Mark Popowski, Lukas' Biograf, von einem unglaublichen Dialog, der sich während des Verhörs abspielte. 

Der Ankläger fragte Lukas: „Wie ist es möglich, dass Sie nachts beten und tagsüber Menschen aufschneiden?“ Die Antwort von Lukas löste Gelächter und Applaus im Publikum aus: „Ich schneide Menschen, um sie zu retten, und was ist Ihr Ziel, wenn Sie sie schneiden, Herr Staatsanwalt?“ 

Dann beschloss der Staatsanwalt, aufs Ganze zu gehen und fragte: „Wie ist es möglich, dass Sie an Gott glauben? Haben Sie ihn gesehen, Ihren Gott?“ Auch diese Frage parierte Lukas brillant: „Ich habe Gott wirklich nicht gesehen, Herr Staatsanwalt. Aber ich habe Operationen am Gehirn durchgeführt und den Schädel geöffnet, und ich habe dort auch keinen Geist gesehen. Auch ein Gewissen habe ich dort nicht gefunden.“

„Der Bischofsprofessor vereinte in seinen Händen das Kreuz und das Skalpell“, schrieb Popowski. Die Persönlichkeit dieses Mannes zog den Biographen so sehr in ihren Bann, dass Popowski, ein Atheist, der früher über Wissenschaftler und die Wissenschaft schrieb, innerhalb von 20 Jahren, nachdem er seine Biografie geschrieben hatte, sogar den orthodoxen Glauben annahm. 

„Ich habe ihn nie wütend, zornig oder einfach nur gereizt gesehen", schrieb der Arzt Lew Oschanin, der mit Erzbischof Lukas zusammenarbeitete. „Sein Gesicht drückte nie Verärgerung oder Unzufriedenheit aus, oder dass er sich über Kleinigkeiten aufregte (aus der Sicht eines erfahrenen Chirurgen). Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass er immer sehr hilfsbereit war.“ Er war nie unsicher, selbst wenn er verhaftet wurde und sein Schicksal ungewiss war. 

Lukas war immer ehrlich und mutig - er betete, predigte und hängte offen Ikonen auf - selbst in den schlimmsten Jahren der Kirchenverfolgung. „Ein Mann von selbstlosem Glauben, unbeugsamem Willen und Pflichterfüllung“, so schrieb der sowjetische Priester und Dissident Alexander Men.

Einige Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR, im Jahr 1995, wurde Lukas auf der Krim und in Krasnojarsk als Märtyrerheiliger anerkannt. Fünf Jahre später wurde er ein gesamtrussischer Heiliger, ein „neuer Märtyrer und Bekenner“, der oft als Heiliger Lukas von Simferopol oder sogar als Heiliger Lukas, der selige Chirurg, bezeichnet wird.