Die Definition des Begriffs Popularität kann schwierig sein, besonders wenn von fiktiven Charakteren die Rede ist – so haben wir für diese glorreichen (oder abscheulichen) Menschen, die alle der Fantasie russischer Autoren entsprungen sind, verschiedene Kriterien angewandt: Anzahl der Verfilmungen und Google-Einträge, Interviews mit Ausländern und so weiter. Hier ist unser Ergebnis:
Jewgeni Basarow
Ein Nihilist ist ein Mensch, der jeden konservativen Wert, an den sich die Gesellschaft klammert, ablehnt, der laut schreit: „Zum Teufel damit, das ist alles Heuchelei und Unsinn!“. Das Konzept selbst ist ziemlich alt – doch in Russland war es Iwan Turgenjew, der den idealen Nihilisten Jewgeni Basarow in seinem berühmtesten Roman Väter und Söhne (1862) porträtierte.
Der junge Arzt Basarow kritisiert alle anspruchsvollen Gespräche über Politik und Liebe und empfindet das Ganze als sinnloses Geschwätz – was alle um ihn herum schockiert. Er arbeitet viel, versucht, Menschen zu helfen, findet sich aber tragischerweise genauso so hilflos und sinnlos wieder wie alle anderen.
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Aljoscha Karamasow
Unter den drei Brüdern Karamasow, den Helden des gleichnamigen Romans von Fjodor Dostojewski, ist Aljoscha der jüngste und laut Google auch der populärste – und die Lieblingsfigur seines Autors. Während seine Brüder Dmitrij und Iwan Leidenschaft bzw. Rationalismus symbolisieren, verkörpert Aljoscha eine christliche Seele, frei von Sünde und voller Liebe. In den Brüdern Karamasow wirkt er wie ein Spiegel für die anderen Charaktere – die sich im Gespräch mit ihm, immer voller Barmherzigkeit und Verständnis, offenbaren. Später geht er in ein Kloster – aber Dostojewski, der eine Fortsetzung plante, deutete an, dass er ein Revolutionär werden könnte.
Natascha Rostowa
Natascha Rostowa, eine junge Adlige aus Leo Tolstois Krieg und Frieden, ist wie Aljoscha – laut Google – beliebter als die beiden anderen Hauptcharaktere dieses epischen Romans (Pierre Besuchow und Andrej Bolkonski). Kein Wunder – weder Pierre noch Andrej wurden von Audrey Hepburn (im Hollywood-Film von 1956) gespielt.
Über die vier Bände von Krieg und Frieden hinweg verwandelt sich Natascha aus einem 13-jährigen naiven Teenager, zu einer leidenschaftlichen junge Frau auf der Suche nach Liebe und schließlich in eine gestandene Mutter von vier Kindern – Tolstois Ideal der weiblichen Evolution. Im ganzen Buch ist Natascha ein sanftes und freundliches Wesen, immer bereit, ihren Nachbarn zu helfen.
Professor Woland
„Sie erzählen allen Kindern: ,Der Teufel, er ist ein Bösewichtʻ, aber das ist nicht unbedingt so“, heißt es in einem alten Blues-Songs, und Michail Bulgakow, der Autor von Der Meister und Margarita, würde dem zustimmen. Professor Woland, der zunächst als „Ausländer“ dargestellt wird, der Moskau in den Neunzehnhundertdreißigern besucht, ist in der Tat der Teufel, der gekommen ist, um die sozialistische Stadt mit seinem Gefolge aus grotesken Dämonen zu inspizieren.
Bulgakow zeigt Woland nicht als böses Wesen: Er ist eher ein Philosoph, der lediglich böse Menschen bestraft und sowjetische Bürger mit Interesse betrachtet, nur um herauszufinden, dass es nichts Neues an ihnen gibt – und schließlich fliegt er weg und hinterlässt den stechenden Geruch von Schwefel in der Luft.
Ilja Oblomow
Titelhelden zeichnen sich immer besonders aus – aber das ist nicht das Einzige, was Ilja Oblomow aus Iwan Gontscharows Roman Oblomow aus dem Jahre 1859 so besonders macht. Er ist ein echter Couch-Kartoffel-Lifestyle-Kreuzritter: Während des gesamten Romans liegt er hauptsächlich und buchstäblich auf der Couch und fantasiert von großen Taten, die er vollbringen werde, aber er unternimmt nie wirklich etwas, um sie zu verwirklichen.
Es ist eine sehr russische Art der Faulheit: von etwas Großem träumen, aber aus Angst nie einen Schritt in diese Richtung zu gehen. „In jedem von uns steckt ein kleiner Oblomow“, schrieb der Kritiker Nikolaj Dobroljubow, ein Zeitgenosse Gontscharows. Oblomow ist also in gewisser Weise die russischste aller literarischen Figuren.
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Juri Schiwago
Juri Schiwago ist ein Arzt, dessen Leben den Schrecken der Revolutionen und des Bürgerkriegs im frühen 20. Jahrhundert in Russland folgt, der dabei aber nie seine Würde verliert. Der Roman brachte Pasternak den Nobelpreis und viele Probleme in seiner Heimat ein (die sowjetischen Behörden fanden den Roman über einen Intellektuellen unpassend). Der Roman ist immer noch ein Bestseller und wurde mehrfach verfilmt, darunter 2002 mit Keira Knightley – so ist es nicht verwunderlich, dass Schiwago noch gut in Erinnerung ist.
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Eugen Onegin
In Russland ist Eugen Onegin, ein Vers-Roman von Alexander Puschkin, eines der bekanntesten Bücher überhaupt. Schulkinder müssen noch immer buchstäblich ganze Abschnitte auswendig lernen, damit sie sich für den Rest ihres Lebens daran erinnern können – ob es ihnen nun gefällt oder nicht.
Im Ausland sind die Menschen weniger vertraut mit der Geschichte von Onegin – einem jungen, abgestumpften Aristokraten, der das Leben anderer ruiniert, aber dabei selbst ein gebrochener Mensch ist. Es existieren mehrere hervorragende Übersetzungen in andere Sprachen, Peter Tschaikowski komponiert eine Oper und es gibt einen britisch-amerikanischer Film aus dem Jahre 1999 mit Ralph Fiennes in der Hauptrolle.
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Rodion Raskolnikow
Der beliebteste aller Charaktere Dostojewskis, Raskolnikow aus Schuld und Sühne, hat sich längst zu einem Meme entwickelt, das dafür steht, alte Damen mit einer Axt zu töten. Aber schon zuzeiten Dostojewskis verkörperte er die Idee eines sündigen Intellektuellen, der es wagt, anderen aufgrund seiner überlegenen abstrakten Ideen das Leben zu nehmen. Er zahlt jedoch einen hohen Preis, nicht nur, indem er aufgedeckt und eingesperrt wird, sondern – was noch wichtiger ist – durch seine große Reue und seinen moralischen Zusammenbruch. Und schließlich, weil er sich in ein Internet-Meme verwandelt hat...
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Lolita
Technisch gesehen schrieb Wladimir Nabokow Lolita (1955) auf Englisch und die gleichnamige Heldin des Romans ist Amerikanerin, aber da Nabokow früher ein russischer Autor war und Lolita selbst ins Russische übersetzte, kamen wir nicht umhin, ihn in die Liste aufzunehmen. Die Geschichte des jungen Mädchens Lolita, wiedergegeben von einem pädophilen Erzähler, löste, als sie veröffentlicht wurde, in konservativen Kreisen der USA einen solchen Sturm der Entrüstung aus, dass man ihn unmöglich vergessen kann. Es gab zahlreiche Bearbeitungen: zwei Filme (einer von Stanley Kubrick), ein Musical, zwei Ballette und eine Oper.
Lolita, die Figur, bleibt ein Symbol für verlorene Unschuld – auch wenn wir sie mit den Augen eines Sittenstrolchs sehen, der sie als ein etwas lasterhaftes und heimtückisches Mädchen darstellt. Wie auch immer, man kommt nicht umhin, sie wegen ihres schrecklichen Schicksals zu bemitleiden. Vielleicht ist das der Grund, warum sie bis heute noch so berühmt ist.
Anna Karenina
Sie ist eine echte Heldin, was nicht verwunderlich ist – die Hauptfigur Leo Tolstois gleichnamigen Romans, der etwa dreißigmal von allen möglichen Regisseuren und Filmemachern adaptiert wurde, ist das Porträt einer leidenschaftlichen, starken Frau. Der berühmte russische Schriftsteller lässt deren Wunsch nach Glück tragisch mit den konservativen Werten Russlands des 19. Jahrhunderts kollidieren. Und wenn ein Ausländer eine Figur aus einem russischen Roman kennt, so ist das mit großer Wahrscheinlichkeit Anna Karenina.