Donatien aus Frankreich: Wie Russen mein Leben veränderten

Aus dem persönlichen Archiv
Russia-Beyond-Autoren aus aller Welt erzählen, wie die russische Mentalität ihre Weltsicht verändert hat. Donatien de Rochambeau aus Frankreich sagt, dass ihm Russland und seine Menschen zu einem neuen Leben verholfen haben.

Viele Franzosen vergleichen ihre Ankunft im russischen Universum mit Platons Allegorie der Höhle. Eine Offenbarung über sich selbst und eine große Ohrfeige. Viele von denen, die für einen kurzen Aufenthalt nach Russland gekommen waren, kamen nie zurück. Diese große Ohrfeige lässt sich gut mit dem Wort „DAWAJ!!!“, „Los geht’s!!!“ beschreiben. Das Wort wird dabei immer in Großbuchstaben geschrieben und mit drei Ausrufezeichen versehen. Egal, ob man ein Auto im Stau vorantreiben oder einen Freund trösten möchte, der gerade von der Liebe seines Lebens verlassen wurde – „DAWAJ!!!“ scheint immer ein passender Spruch zu sein. Das Wort kann aber auch verwendet werden, um einem Kellner Trinkgeld zu geben oder zu akzeptieren, dass man spontan ans andere Ende des Landes reisen muss. Man übersetzt „DAWAJ!!!“ nicht, man lebt es.

In den letzten Jahren hatte ich die Gelegenheit, in die Rolle eines Jurors bei einem Gesangswettbewerb zu schlüpfen und mit Freunden eine sowjetische Uhrenfabrik zu kaufen. Ein anderes Mal verfolgte ich ein Null-Schwerkraft-Training für russische Astronauten im Jurij-Gagarin-Zentrum und organisierte Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Für jedes dieser Angebote gab es stets nur eine Antwort: „DAWAJ!!!“

Ich habe nicht den Eindruck, dass mir diese Dinge in Europa hätten passieren können. Zumindest nicht in der gleichen Frequenz wie in Russland. Vielleicht ist es ja ein Moskauer Trend? Die Einladungen für moderne Kunstausstellungen erst zwei oder drei Tage vor der Veranstaltung per Facebook zu verschicken.

Der CEO eines großen russisch-französischen Unternehmens hat mir gesagt, dass es auch in der globalen Geschäftswelt so läuft. In Russland gibt es nur viel weniger Hürden. Eine Hürde bietet zwar Schutz, ist aber gleichzeitig auch eine Herausforderung. In Russland lebt man alles in voller Intensität und im gegenwärtigen Moment, schließlich ist der Morgen noch weit entfernt. Das ist gut und weniger gut zugleich, denn diese Haltung erlaubt, zwingt einen sogar, schneller wieder auf die Beine zu kommen. Sie gibt einem einen Schub zusätzlicher Energie und ist zur gleichen Zeit anstrengend. „DAWAJ!!!“

Dieser intensive Rhythmus lässt einen das Leben aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Manchmal wird dieser Unterschied im Westen als Härte betrachtet, aber vielleicht sollte man es stattdessen als brüske Aufrichtigkeit sehen? Russen sehen keinen Grund, einen Fremden einfach so anzulächeln. Doch wenn ein Freund eine Stunde zu spät kommt, ist man nicht beleidigt, sondern froh und glücklich, dass er endlich da ist. Schließlich bestraft man, wenn man mürrisch ist, vor allem sich selbst. „Mein Freund, endlich bist du da. DAWAJ!!! Lass uns zusammen einen schönen Abend haben!“

Je mehr Zeit ich mit „Russen“ verbringe, desto weniger verstehe ich, was „russisch zu sein“ eigentlich bedeutet. Russland ist nicht einfach ein Land, sondern vielmehr ein Imperium oder ein ganzes Universum. Ich habe die Idee des Imperiums zwar an der Sorbonne mehrere Jahre studiert, doch sie erst in den Moskauer Straßen begriffen. In Russland gibt es zwei Konzepte: Das Konzept der Nationalität und das Konzept der Staatsbürgerschaft. Jede Person hier kann zwar die russische Staatsbürgerschaft, aber auch oft eine andere Nationalität haben und Kalmücke, Tatare, Tschetschene oder Burjate sein. Die russische Sprache besitzt sogar für einen russischen Bürger und einen ethnischen Russen zwei verschiedene Wörter. Dennoch teilen alle zusammen eine Geschichte, weinen oder lachen und schauen sich die gleichen Filme an. Sie alle vereint das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein.

Diese tiefe Kohärenz von Murmansk nach Wladiwostok beschränkt sich jedoch nicht nur auf die kulturellen Bereiche, sondern besitzt auch eine Prise Synkretismus und ist stark von der russischen Orthodoxie beeinflusst. Die Taxis in Moskau haben oft einen muslimischen Rosenkranz, der über einer orthodoxen Ikone hängt. Ich erinnere mich des Weiteren an den Kalender meiner Freunde, an dem der Samstag durchgestrichen und das Wort SHABBAT darüber geschrieben wurde und über dem ein erhabenes, russisch-orthodoxes Triptychon stand. „Verstehen Sie, Donatien, wir sind nicht nur Juden, wir sind auch Russen“, sagten sie zu mir.

Abschließend muss ich hinzufügen, dass es jemanden gibt, der meinen Alltag ständig verändert: Ihr Name ist Katja und sie ist meine Frau. Ihr ist es zu verdanken, dass alles, worüber ich gesprochen habe, für mich eine Erfahrung auf einer anderen Gefühlsebene war.

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