Keine Liebe auf den ersten Blick
Als ich im September 2016 mithilfe eines Austauschprogrammes am Moskauer Architekturinstitut für ein Jahr nach Moskau reiste, kannte ich weder das Land noch die Sprache.
Ich habe das ganze Jahr in einem traditionellen russischen Wohnheim gelebt, das im Grunde die Art von Gemeinschaftsschlafsaal ist, den es auf jedem Universitätscampus gibt. Genauer gesagt handelt es sich um alte Räume, die sich seit den 1960er Jahren kaum verändert haben. Doch ich fand den Gedanken, dass mehrere Generationen von Russen und Sowjetbürgern in diesen vier Wänden gemeinsam gehaust hatten, in dem ich nun leben würde, sehr bewegend!
Als ich das Zimmer zum ersten Mal betrat, war ich überrascht, dort Formica-Möbel vorzufinden. Es gab eine Art Federbett, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, mit einer Matratze, die so dünn war, dass ich beim Schlafen den Lattenrost spüren konnte. Das Badezimmer, das ich mit drei jungen Russinnen, die im selben Block wohnten, teilte, war sehr schmal und wurde ab und an von Kakerlaken heimgesucht. Doch obwohl ich meine erste Nacht mit Weinen verbrachte und mich fragte, warum ich in dieses Land kam, beschloss ich das Beste daraus zu machen und der russischen Kultur eine Chance zu geben.
Bekenntnisse einer Reisenden
Während meines einjährigen Aufenthaltes in Russland hatte ich die Möglichkeit viel zu reisen. Ich war mehrmals in Sankt Petersburg, fuhr mit einem Freund einen Monat lang mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok und besuchte eine Reihe von Orten auf dem Weg dorthin.
Diese Reisen haben definitiv mein Leben verändert. Sie werden kaum glauben, wie viele verschiedene Landschaften es dort in der gleichen Region zu sehen gibt – und natürlich ist der Baikalsee ein ganz besonderer Anblick!
Mein Freund und ich reisten im Januar dorthin. Alle Russen, denen wir davon erzählten, erklärten uns für verrückt; schließlich würden sogar Menschen, die dort leben, in dieser Jahreszeit sonnigere Reiseziele bevorzugen! In der Tat kann die Temperatur am Baikalsee im Winter minus 39 Grad Celsius erreichen, doch seine unglaubliche Landschaft ist die Reise wert.
Auf der Olchon-Insel wohnten wir bei einer alten burjatischen Dame namens Nina. Nina hatte früher als Deutschlehrerin gearbeitet, war aber vor einer Weile in Rente gegangen und vermietete nun Zimmer in kleinen Häusern, die sie in ihrem Garten aufstellte. Während unseres Aufenthaltes wurde sie zu unserer Babuschka und berichtete uns leidenschaftlich von ihrem Leben auf der Insel, während sie den Holzofen speiste, der die einzige Wärmequelle im Haus war. Sie erzählte uns, dass der Wasserlieferjunge jede Woche Wasser zu den Menschen brächte, da es auf der Insel an fließendem Wasser mangeln würde. Ebenso erklärte sie, dass sie nicht das Bedürfnis habe, die Insel zu verlassen, und sei es nur für einen Urlaub, und auch, dass sie schamanische Rituale praktiziere, obwohl sie orthodoxe Christin und Buddhistin sei! Zuerst haben wir uns gefragt, ob wir etwas falsch verstanden hätten. Am Ende begriffen wir jedoch, dass die kulturelle Vielfalt Sibiriens auch widersprüchliche Glaubens- und Lebenskonstellationen möglich macht.
Im Sommer reiste ich schließlich mit einem Freund nach Sotschi, wo wir Couchsurfing nutzten und von einer russischen Familie bewirtet wurden. Ihr 14-jähriger Sohn überließ uns sein Zimmer und schlief im Zimmer seiner Eltern, während wir bei ihnen zu Gast waren. Mit einer so großzügigen Gastfreundschaft hatten wir natürlich nicht gerechnet! Um ihnen zu danken, beschlossen wir, einige französische Gerichte zu kochen, wie ein Gratin und unseren berühmten Schokoladenkuchen „Gâteau au Chocolat“. Die Familie war überaus überrascht und begeistert. Am nächsten Tag lud sie uns mit ihren Freunden zu einem Spaziergang in die Berge ein, um Pflanzen für einen Kräuteraufguss zu sammeln und bereitete außerdem ein köstliches Picknick für uns vor. Es war eine großartige Erfahrung, vor allem, weil wir nie erwartet hätten, derart großzügige Gastgeber zu finden. Uns wurde klar, dass viele Russen, die aus finanziellen Gründen nicht reisen können, das Couchsurfing nutzen, um neue Menschen kennenzulernen und neue Erfahrungen zu sammeln.
Kulinarische Verwirrung
Eine andere Besonderheit, die mich überraschte und an die ich mich bis heute nicht vollständig gewöhnen konnte, ist, dass Russen immer und überall Eis essen. Im Park, im Warenhaus „GUM“, auf dem Roten Platz – ganz egal, ob die Temperaturen bei plus oder minus 15 Grad Celsius liegen. Das Eisessen ist dort fast so etwas wie eine Religion! Manche Russen erzählen einem sogar, dass es gesund wäre: „Eto otschen polesno!“ Ich überlasse es Ihnen zu entscheiden, ob das stimmt.
Um ehrlich zu sein war ich als Französin allgemein überrascht, dass Russen keine festen Essenszeiten haben. Sie können um elf Uhr, aber auch um 16 Uhr zu Mittag essen, mit drei Frühstückspausen dazwischen, da sie nur dann essen, wenn sie hungrig sind. Das war für mich sehr verwirrend, denn in Frankreich haben wir regelmäßige Essenszeiten, die unseren Tag strukturieren. Nach ein paar Monaten „Umgewöhnungszeit“ und gelegentlich knurrendem Magen habe ich mich jedoch beinahe daran gewöhnt.
Abschließend möchte ich sagen, dass mein Auslandsjahr in Russland im Großen und Ganzen eine Reise durch Raum und Zeit für mich gewesen ist. Meine Vorstellungen, die ich von diesem Land hatte, haben sich, seitdem ich dort war, von Grund auf geändert und auch meine Vorurteile wurden mir genommen. Ich kann Ihnen also einen Aufenthalt in Russland nur ans Herz legen, denn: Nach einer Weile will man vielleicht nie wieder gehen!