Wenn ich in meiner Heimat jemanden nach seinem Wohlbefinden frage, gibt es nur eine Antwort: „Gut, danke!“ Wenn Sie jedoch einen Russen fragen, werden Sie wahrscheinlich in ein unerwartetes Gespräch verwickelt. Ich begegnete in der Metro einer älteren Frau, die mir in qualvoller Ausführlichkeit von ihrem Arzt erzählte; meine Lehrerin erklärte mir ihre Eheprobleme; und ein Busfahrer bestand darauf, seine Missbilligung des Moskauer Rohrleitungssystems mit mir zu teilen. Diese einfache Begrüßungsfloskel kann also schnell zu einer umfassenden und aufrichtigen Antwort führen.
Russen sind aufrichtig und haben eine extreme Abneigung gegen alles, was unecht erscheint. Deswegen werden sie immer von Herzen und von einem Ort der Wahrheit zu Ihnen sprechen. Sie werden also immer wissen, was die Leute von Ihnen denken, egal ob es gut oder schlecht ist.
Ein Freund sagte einmal in der wahren russischen Ehrlichkeit zu mir: „Jetzt mag ich dich, aber ich mochte dich nicht, als wir uns das erste Mal trafen, denn da warst du wirklich gemein!“ Meine erste Reaktion war, dass ich sofort abwehrend wurde – wie konnte er mir so etwas sagen? Jetzt verstehe ich, wie befreiend es ist, jemandem zu sagen, was man wirklich denkt.
Als ich mein Zimmer in der Obschaga, dem Studentenwohnheim, betrat, bemerkte ich sofort die losen Dielen, den kaputten Duschkopf, die bröckelnden Wände und die Decke, die mit Klebeband verstärkt worden war. In den nächsten Monaten begann ich es überall zu entdecken: auf zerbrochenen Windschutzscheiben, Treppen, Türen und Möbeln. Alles, was kaputt war, wurde einfach mit Klebeband wieder instand gesetzt. Jedes Mal, wenn sich meine Dielen erneut lockerten, beschwerte ich mich: „Warum kann es nicht ordnungsgemäß repariert werden?“, während sie versuchten, die Dielen wieder auf dem Boden festzukleben.
Mein Freund Iwan hatte einige aufschlussreiche Worte zu diesem Thema, die mir die russische Einstellung zum Einfallsreichtum erklärten: „Erschaffe es kaputt, repariere es für immer!“ Ich weiß jetzt, dass es nichts gibt, was ein bisschen Klebeband, Kreativität und Geduld nicht lösen können. Meine russischen Freunde haben mir beigebracht, dass es, wenn es sich nicht um ein unglaublich dringendes Problem handelt, warten kann, und dass es in der Zwischenzeit keinen Grund gibt, sich darüber Gedanken zu machen.
Diese geduldige Einstellung ist hier Teil meines Alltags geworden. In Russland sind die Dinge nie vorhersehbar. Die Entfernungen sind riesig, das Wetter kann Sie jederzeit aufhalten, die Warteschlangen sind ein verwirrendes Durcheinander, und die gefürchtete Bürokratie hat ihr ganz eigenes Tempo, in dem Ihre persönlichen Termine keine große Rolle spielen. Es gibt viele Dinge, die Sie nicht kontrollieren können und das Leben ist viel einfacher, wenn Sie lernen, diese Tatsache zu akzeptieren.
Aus westlicher Sicht sind wir von der Idee besessen, ständig unterhalten zu werden und dabei verstehen wir nicht, dass es etwas ganz anderes ist, tatsächlich entspannt zu sein. Bevor ich in Russland ankam, hatte ich oft Schwierigkeiten mich zu entspannen, weil ich mich ständig fragte, ob ich denn auch hart genug gearbeitet hatte. Gab es vielleicht sogar eine produktivere Tätigkeit, mit der ich meine Zeit verbringen könnte?
In Russland ist Entspannung eine tägliche Praxis, die aktiv gepflegt wird – sei es auf der Datscha oder zu spät zu einem Treffen zu kommen, weil man nicht hetzen wollte. Dies ist besonders wichtig in einer Stadt wie Moskau, wo das Leben geschäftig und stressig sein kann. Trotz des schnelllebigen Tempos haben mich vor allem die Moskauer gelehrt, dass man die kleinen Momente der Freude schätzen sollte, da sie mehr Glück ins Leben bringen.
Ich habe auch gelernt, dass das Konzept von Zeit in Russland sehr flexibel ist. Ihre Freunde erscheinen vielleicht zu spät, Ihre Post kommt nicht an und Ihr Gehalt oder wichtige Dokumente treffen nicht genau zu dem erwarteten Zeitpunkt ein. Das liegt vor allem daran, dass die Russen dazu neigen, Dinge in ihrem eigenen Tempo zu erledigen – es ist eine Art Widerstand gegen jeden bevorstehenden Stress oder jegliche Angst vor Fristen und dem Leben.
In Australien existiert außerdem das vorgefasste Klischee, dass Russen kalt und humorlos sind. Und tatsächlich lächeln Russen nicht viel in der Öffentlichkeit, aber die anfängliche Zurückhaltung gegenüber Fremden offenbart, wenn sie vergangen ist, witzige, aufgeschlossene und neugierige Menschen.
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