Ben aus den USA: Wie Russen mein Leben veränderten

Aus dem persönlichen Archiv
Russia-Beyond-Autoren aus aller Welt erzählen, wie die russische Mentalität ihre Weltsicht verändert hat. Ben aus den Vereinigten Staaten sagt, dass er gelernt habe, wie er auf eine höfliche Weise unhöflich – und vor allem ehrlich – sein kann.

Etwa zu der Zeit, als ich in Russland ankam, war ich mit einem Mann namens Iwan unterwegs. Wir hatten ein paar Getränke intus und haben über etwas Belangloses gesprochen, vielleicht war es eine Fernsehkomödie, vielleicht das Wetter. Mitten in unserem Gespräch schlug er dann plötzlich mit seinen Fäusten auf den Tisch.

„Das ist uninteressant!“ sagte er.

Ich wusste nicht, was ich sagen soll und so fuhr er fort. „Ich möchte über etwas Interessantes sprechen!“

„Was meinst du?“

Er nahm einen Schluck von seinem Getränk – wirklich wütend sah er nicht aus. „Ich möchte über etwas sprechen, das interessanter ist als das jetzige Thema. Findest du es etwa spannend?“

Ich dachte über seine Frage nach und realisierte, dass es mir wie ihm ging, also antwortete ich: „Ehrlich gesagt, nein.“

„Gut! Also erzähl mir etwas Interessantes.“

Ich dachte noch etwas nach. Ich musste doch etwas Interessantes wissen! Ich kannte mich mit Philosophie und Literatur aus und war ein Liebhaber der 80er-Jahre-Musik. Aber mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Als ich in meinem Kopf nach interessanten Dingen kramte, wurde mir bewusst, dass es nichts zu finden gab, dass ich all meine spannenden Ideen irgendwo abgelegt hatte, wo ich sie nicht mehr erreichte. Ich hatte wohl alles Interessante in einem dunklen Schrank abgelegt, gleich neben den Geburtstagen entfernter Familienmitglieder, die man noch nie leiden konnte, und jeder Mathestunde, an der ich je teilgenommen hatte.

Noch schlimmer war jedoch die Tatsache, dass ich alle spannenden Überlegungen mit unnützen ersetzt hatte. Mit Gedanken zu der Serie „How I Met Your Mother“, die schick und vorgefertigt waren wie schlechte IKEA-Regale, und den Namen aller Marvel-Helden und ihrer Alter Egos.

Ich fühlte mich wie ein Idiot. Also drehte ich mich zu Iwan um und sagte: „Es tut mir leid, aber ich glaube es ist eine Weile her, seit ich eine aufrichtige Unterhaltung geführt habe. Ich schäme mich dafür, dass ich momentan nichts Interessantes zu sagen habe.“

Aber ich hatte Glück – Iwan war durch den Alkohol schon eingeschlafen.

Einige Zeit später besuchte ich die Wohnung eines Mannes, dessen Name zufällig auch Iwan war. In der Wohnung zog ich meine Schuhe aus, weil ich auf den harten Weg gelernt hatte, nicht mit Schuhen in die Wohnungen anderer Leute zu gehen, und schüttelte Iwans Hand. Ich folgte ihm in die Küche, als er anhielt und sich zu mir umdrehte.

„Möchtest du deine Hände waschen?“, fragte er mich.

Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich“, antwortete ich ihm.

„Aber du warst draußen.“

„Ja.“

„Draußen ist es schmutzig.“

Ich schaute auf meine Hände und wollte sie wirklich nicht waschen. Also sagte ich: „Ich habe mit ihnen nicht sämtliche Straßen abgetastet.“

Er schüttelte seinen Kopf, murmelte etwas von wegen „Amerikaner“ und ging in die Küche, wo er uns Tee zubereitete.

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In diesem Moment wurde mir ein großer Unterschied zwischen den Russen und den Amerikanern bewusst. Ein Amerikaner würde nie jemanden befehlen, seine Hände zu waschen, wie Iwan es getan hatte. Amerikaner sagen Ihnen seltsamerweise nicht oft, was sie wirklich wollen. Amerikaner setzen Dinge voraus und wenn Sie nicht die Höflichkeitsregeln eines Amerikaners erfüllen, wird er Ihnen nicht direkt sagen, dass er enttäuscht ist. Stattdessen vollführen Sie beide einen Tanz – ein passiv-aggressiver Walzer, den Sie den Rest der Nacht vollführen und bei dem Sie sich fragen werden, auf welchen Schlips Sie Ihrem Gegenüber überhaupt getreten sind.

Iwan setzte sich zu mir und servierte den Tee. Er hat mich weder unterschwellig verurteilt, noch hat er mich auf mein Benehmen hingewiesen, welches er eventuell missbilligte. Er hatte mir zuvor offen und ehrlich gesagt, wie er sich fühlte, und damit war die Sache für ihn erledigt. Während er mir gegenüber saß, sah er zufrieden und ruhig aus. Also beschloss ich, von diesem Moment an, den Leuten immer genau zu sagen, wie ich mich fühlte. Dann haben Iwan und ich über etwas Interessantes gesprochen… denke ich.

Benjamin Davis ist ein in Sankt Petersburg lebender amerikanischer Journalist und Autor des Buches „The King of FU“. 

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