Schade, dass wir das nicht gedreht haben: Wie Russland auf die TV-Serie über Tschernobyl reagiert

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ALEXANDRA GUSEWA
Was haben die Otto-Normal-Zuschauer gefühlt, als sie sich die neue TV-Serie aus den USA angesehen haben?

„Der Schmerz floss aus dem Bildschirm wie radioaktive Lava, die den Boden verbrennt. Wir machen uns normalerweise darüber lustig, wie wir in amerikanischen Filmen dargestellt werden und haben den Moment verpasst, in dem sie uns so gesehen haben, wie wir selbst uns zu sehen nicht mehr in der Lage sind“, schreibt die Dramaturgin Nina Belenizkaja in ihrem Facebook-Account.

Aber Belenizkaja interessiert, was ein wohlsituierter Bewohner eines wohlhabenden Landes denkt und fühlt, wenn er sich die Serie ansieht. Nina erinnert sich, dass sie 1986, als sich die Katastrophe ereignete, vier Jahre alt war. „Wir nannten den Regen radioaktiv und es hieß, dass man sich vor ihm schützen müsse, weil er ätzend sei. Und man durfte keine Pilze sammeln.“

Wir haben jeden Moment miterlebt

Andrejs Großvater war ein Bergarbeiter aus Tula, aber er war bereits im Ruhestand, als sich der Unfall ereignete, und deshalb wurde er nicht als Helfer am Ort der Tragödie eingesetzt. Seine Verwandte erhalten immer noch Vergünstigungen, weil sich der radioaktive Niederschlag bis nach Tula ausgebreitet hat. „Natürlich wusste ich von dem Unfall, aber Tschernobyl hat mich damals emotional nicht berührt. Aber nachdem ich mir drei Folgen der Serie hintereinander angesehen hatte, konnte ich nicht mehr ruhig schlafen – ich hatte Alpträume. Mir taten all diese Menschen und Hunde so schrecklich leid.“

Viele äußerten sich, es sei schade, dass eine solche Serie nicht in Russland gedreht wurde. „In den drei Jahrzehnten seit der Tragödie hat niemand im postsowjetischen Raum das Thema aufgegriffen oder eine eigene Version der Ereignisse auf der Leinwand präsentiert. Wie auch bei der Tragödie des U-Bootes K-19 oder dem Weltlauf im All zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten erfährt die Welt von den Meilensteinen der russischen Geschichte aus einer angelsächsischen Serie“, sagt der Redakteur Ilja.

Übrigens wurde 2014 in Russland die Serie Die Sperrzone von Tschernobyl gedreht, aber das war eine mystische Geschichte über Jugendliche, die in unseren Tagen in das Gebiet der Katastrophe gingen – sie vermittelt absolut keinen Eindruck von der Katastrophe.

Da sind natürlich auch noch diejenigen, die mit dem ganzen Medienrummel um die Serie unzufrieden sind. Marusja Tschuraj schrieb auf Facebook, sie habe die Erinnerungen von Zeitzeugen gelesen, sich Dokumentationen angesehen und sei vor drei Jahren selbst in Tschernobyl gewesen. „Diese hübsche HBO-Serie ist halt nur eine Fernsehserie. Also beendet diesen Hype!“ Diejenigen jedoch, die sich bisher nicht so intensiv mit dem Thema beschäftigt und nicht so viel Material gesehen oder gelesen hatten, waren meist schockiert.

Wir waren erstaunt, wie treffend die UdSSR dargestellt wurde

„Mein Vater war ein Militärpilot und vom Sowjetsystem überzeugt. Ich erinnere mich sogar noch an das Wörterbuch des Atheismus in seinem Bücherregal. Aber im Laufe der Jahre erkannte er die Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit des Systems und kritisierte es häufig (natürlich meistens in der Küche). Und ich erinnere mich noch sehr gut, wie zum ersten Mal im Radio über den Unfall berichtet wurde. Es wurde nichts Genaues mitgeteilt, aber mein Vater erkannte sofort das Ausmaß der Tragödie – und war sehr wütend auf die Partei und die Beamten. Er glaubte, dass sie viele Menschen ins Verderben stürzen würden. Papa starb im Juni nach der Katastrophe, aber er sah vieles voraus. Als ich mir die Serie angeschaute, sah ich die gleiche sowjetische Küche wie bei uns, die gleichen Sommerkleider und Frisuren – alles war so detailgenau, dass es mir kalt den Rücken runterlief. Es war, als würde ich mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen“, sagt Jelena, eine Buchhalterin.

„Sogar alle Gesichter sehen slawisch aus, außer vielleicht das des Schichtleiters der Bergleute – der sieht eher wie ein Redneck aus. Nun, mit der Wodkatrinkerei haben sie es eindeutig übertrieben. Als ob wir in jeder Situation das Zeug gläserweise hinterkippen würden“, bemerkt der Manager Nikolaj.

Der Fernsehproduzent Juri Golajdo hat sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Er fuhr zu den Dreharbeiten nach Tschernobyl und deshalb hat ihn die Visualisierung noch stärker beeindruckt. „Die Details sind auf höchstem Niveau.“

Entsetzt über das ruinöse Sowjetsystem

Auch der Vorsitzende der Jabloko-Partei, Grigorij Jawlinskij, beteiligte sich an dem Diskurs. Er behauptet, dass alle seine Freunde und Bekannten, die wenigstens über eine gewisse Qualifikation zur Beseitigung der Folgen des Tschernobyl-Unfalls verfügten, dorthin gegangen seien. Die meisten von ihnen waren Freiwillige. „Zehntausende aus dem ganzen Land haben im Kampf gegen die Folgen der Katastrophe ein Höchstmaß an menschlicher Solidarität und Selbstlosigkeit bewiesen.“

Bei Facebook wird die Meinung geäußert, dass es sich hier nicht nur um eine Serie über die Katastrophe, sondern auch über die Sowjetunion als Ganzes handelt, und Jawlinskij stimmt dem zu. Und das größte Problem ist nicht die Gefahr (die zum Teil tödlich ist), sondern die monströse offizielle Lüge. „So führte unter anderem der Mangel an Meinungsfreiheit und unabhängigen Medien dazu, dass am 1. Mai 1986, fünf Tage nach der Explosion im Kernkraftwerk Tschernobyl, in Kiew und anderen Städten, die sich in der Zone des radioaktiven Niederschlags befanden, Tausende von Menschen zur ,festlichenʻ Mai-Demonstration gingen.“ Jawlinskij betrachtet die mangelnde Meinungsfreiheit auch als eines der Hauptprobleme des Zusammenbruchs der UdSSR.

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