Es ist leicht, in Russland auf Expats zu treffen, insbesondere in den wichtigsten wirtschaftlichen und kulturellen Zentren des Landes - Moskau und St. Petersburg. Das liegt daran, dass sich das Leben dort kaum noch von dem in anderen internationalen Megacitys unterscheidet und ein Expat dort alles findet, was sein Herz begehrt: einen angemessenen Job, luxuriöse Appartements, vegane Restaurants, Frappuccino… Doch wie sieht es abseits dieser beiden Metropolen aus? Vier Ausländer berichten, wie sie in der russischen Provinz eine zweite Heimat gefunden haben.
Belebei, eine kleine Stadt in der russischen Republik Baschkortostan, ist kein Touristenmagnet. Hier leben rund 60.000 Menschen und darunter wahrscheinlich nur ein Ausländer: der Franzose Julien Bauer. Der 25-jährige Ingenieur lebt seit sechs Monaten wegen der Arbeit hier.
Nach seinem Studium in Frankreich und den USA war Julien 2017 mehrmals in Russland. „Während des Studiums in den USA hatte ich die Gelegenheit, an einem internationalen Wettbewerb für Nachwuchsingenieure teilzunehmen, der jedes Jahr im Rahmen des St. Petersburger Internationalen Gas Forums stattfindet”, erzählt er. „Unser Team hat gewonnen und wir durften die Ölfelder von Gazprom in Sibirien besichtigen. Ich war überwältigt von der Schönheit Sibiriens. Diese Reise bestärkte mich in dem Wunsch, eines Tages in Russland zu arbeiten.”
Im letzten Jahr nahm er eine Stelle als Manager eines Käseproduzenten in Belebei an. „Zunächst war ich auf der Suche nach Stellen im Öl- und Gassektor in Moskau und St. Petersburg. Aber ein Bürojob in der Stadt, mit viel Verkehr und der Umweltverschmutzung, das alles erschien mir irgendwann nicht mehr so reizvoll”, berichtet Julien. „Dann habe ich das Angebot in Baschkortostan entdeckt. Mich haben die Verantwortung und die guten Zukunftschancen gereizt.”
Seine Familie war anfangs nicht begeistert von Juliens Auswanderplänen. Doch Julien fühlte sich von Beginn an wohl. In der Provinz kann man die lokale Kultur hautnah erleben. Die Zivilisation der Großstädte ist hier weit weg.
„Was mir hier am meisten gefällt, ist die Authentizität der Menschen. Es gibt immer Ausnahmen, aber meist sind die Leute hier sehr offen und direkt”, so Julien. „Ich habe vor allem viel Solidarität zwischen den Menschen erlebt. Wenn ich ein Problem in meiner Wohnung habe oder etwas suche, ist immer ein Kollege oder ein Freund bereit zu helfen. Die Leute, die ich üblicherweise treffe, sind großzügig, interessiert und stehen Familie und Freunden stets zur Seite.”
Laura ist in Kalifornien geboren und aufgewachsen. Vor zehn Jahren besuchte sie Krasnodar als Touristin und einen Monat später war sie sich sicher, dass sie bleiben wollte. „Ich hatte das Glück, in vielen verschiedenen Städten leben zu können, und ich bin sicher, dass ich nach Krasnodar gehöre”, sagt sie.
„Ich denke nicht daran, hier nochmal fortzugehen. Ich liebe den Kuban! Ich bin durch die Region Krasnodar gereist und habe hier viele schöne Eindrücke gewonnen. Ich habe Russisch gelernt, meinen russischen Ehemann kennengelernt und zwei Jungen in einem russischen Roddom (Entbindungsheim) zur Welt gebracht!“
Ihre Kinder sind inzwischen drei und fünf Jahre alt. „Sie sprechen vor allem Englisch, aber wir alle sprechen auch Russisch miteinander", berichtet Laura. „Sie werden hier aufwachsen und zur Schule gehen. Sie sind russische Staatsbürger. Ob sie sich später damit identifizieren, können sie selbst entscheiden, wenn sie älter sind.”
Der Alltag in Krasnodar, das Obst und Gemüse aus der Region und ein Klima, das an das in Kalifornien erinnert, haben es Laura leicht gemacht, sich in die Stadt zu verlieben. „Hier in Krasnodar lebe ich wie eine Russin. Dennoch fühle ich mich jeden Tag wie auf einer Reise in einem fremden Land. Egal wie vertraut alles ist, ich fühle mich noch immer als Touristin. Ich liebe dieses Gefühl.”
In den USA arbeitete Laura als Grafikdesignerin bei Harley Davidson, doch in Krasnodar fand sie in diesem Beruf keine Anstellung, weil sie anfangs kein Russisch konnte. „Deshalb begann ich, Englisch zu unterrichten, und es hat mir unerwartet sehr gut gefallen ...“
Russland ist für Laura ein Land der Extreme. Sie hält die Russen für stark und robust: „Ich bewundere sie und ihre Anpassungsfähigkeit. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir, um die Russkaja Duscha (die russische Seele) zu verstehen, und ich genieße diese Reise.”
Der französische Schriftsteller Jean-Louis Bachelet wusste, dass Russland seine zweite Heimat sein wird, als er das erste Mal mit den Werken russischer Schriftsteller und Komponisten in Kontakt kam.
Er reiste in die beiden Hauptstädte, nach Moskau und St. Petersburg. Doch die vielbeschworene russische Seele suchte er dort vergeblich. Sein Bestreben, diese zu finden, führte ihn weg von den Metropolen.
„Es ist unmöglich für einen Schriftsteller, der über Russland schreiben möchte, sich darauf zu beschränken, diese Städte zu besuchen, ohne in Klischees zu verfallen, die westliche Stereotype nähren und die Grundlage für Verschwörungstheorien liefern.”
So fand er sich an Orten wieder, in die sich nur selten Touristen verirren. Zuerst führte ihn sein Weg nach Murmansk im Norden des Landes und wenig später in den Süden nach Machatschkala in Dagestan.
„Machatschkala und Murmansk stellen zwei Extreme dar, und eine der Besonderheiten Russlands ist diese einzigartige Fähigkeit, derart radikal unterschiedliche Städte in einem Land zu vereinen. In Murmansk sehen wir eine nordische Welt, die an Wikinger oder Normannen erinnert ... Der Nordkaukasus dagegen ist eine islamische Region, geprägt von der Deportation der Tschetschenen durch Stalin im Jahr 1944 und den schrecklichen Kriegen der späten 1990er Jahre. Die Menschen, die dort leben, ganz gleich ob in Murmansk oder Machatschkala, erinnern sich an die Verwundungen der Vergangenheit. Sie verkörpern für mich ‚echte Menschen‘, sowohl in Trauer als auch in Freude“, erklärt er.
Natürlich gibt es auch Herausforderungen, etwa die extreme Kälte in Murmansk. Aber Jean-Louis Bachelet meint: „Wo echtes Leben ist, ist Gefahr. Wenn es keine Gefahr mehr gibt, gibt es kein Leben mehr.” Ihm gefällt es so gut in Dagestan, dass er sich dort ein Haus kaufen möchte.
Der italienische Mosaikkünstler Marco Bravura lebt seit zwölf Jahren mit seiner Familie in der russischen Kleinstadt Tarusa (140 km südlich von Moskau). Nachdem er schon die ganze Welt bereist und überall gearbeitet hatte, bekam er eines Tages vom Geschäftsmann und Mäzen Ismail Achmetow eine Einladung nach Russland, um Mosaike zu restaurieren. Marco erhielt sogar das Angebot, ein eigenes Studio eingerichtet zu bekommen.
„Als ich zum ersten Mal hierherkam, fühlte ich etwas ganz Besonderes. Ich kann nicht wirklich erklären was, aber im Grunde hatte ich das Gefühl, dass ich hier etwas tun kann, was in Italien vielleicht nicht mehr möglich ist“, erinnert er sich.
Seit über einem Jahrzehnt sind er und seine Frau eine feste Größe im Ort. Sie haben eine Kunstschule für Kinder gegründet und unterstützen russische Künstler, organisieren Kunstaustellungen und Konzerte.
„Tarusa ist mein Lieblingsort in Russland. Es ist aus vielen Gründen ein fantastischer Ort. Die Natur hier ist wunderbar - der schöne Fluss Oka und die Wälder“, sagt er. Diese kleine Stadt hat ihn inspiriert, alles zu tun, um die Schönheit des Ortes zu fördern. „Moskau und St. Petersburg sind wunderschöne Städte, aber auch die Provinz braucht Schönheit. Denn es macht Freude, an einem schönen Ort zu leben. Tarusa ist für mich der Ort, von dem aus ich Schönheit im Land verbreiten will”, sagt Marco.
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