Auf einer Moskauer Straße gegen 23:00 Uhr. Eine junge Frau in schäbigen Jeans und einem T-Shirt kommt aus dem Eingang eines Plattenbaus am Stadtrand der Stadt. Sie geht ein paar Schritte und steigt in einen grauen Toyota ein. Am Steuer sitzt ein 33-jähriger Programmierer.
Er hat zwei Kinder und eine Ex-Frau, die er manchmal vermisst. Sie beendete ihre letzte „ernsthafte“ Beziehung vor anderthalb Jahren, nachdem ihr Freund versucht hatte, seine Hand gegen sie zu erheben.
Im Wageninneren ertönt Musik aus den Achtzigern und man unterhält sich über die vergangene Arbeitswoche. Der Toyota startet und fährt zum Haus des jungen Mannes. Am Morgen wird er sie zurückbringen und zu seiner Ex-Frau und seinen Kindern fahren. Sie wird duschen, in Tinder herumstöbern und für den Abend einen Date mit einer anderen Person vereinbaren.
„Ich weiß, dass er manchmal mit seiner Ex-Frau schläft, und ich suche mir ab und zu einen Liebhaber – wir machen da kein Geheimnis daraus. Wir haben aber eine Menge gemeinsamer Interessen, unser Geschmack ist derselbe und ich fühle mich wohl bei ihm“, sagt die junge Frau.
Sie hat Angst zu heiraten und auch er möchte keine Verantwortung übernehmen. Ihre „freie“ Beziehung dauert nun schon seit mehr einem Jahr. Sie versichert, dass sie sich jedes Mal glücklich fühlt, wenn sie ihn trifft.
Es ist nicht bekannt, wie viele Paare in Russland solche freien Beziehungen unterhalten, aber im Internet werden sie eindeutig verurteilt. „Es gibt keine freien Beziehungen, das ist nur verdammte Unzucht“, heißt es unter einem entsprechenden Topic in einem Frauenforum.
Die Mehrheit der russischen Frauen – 69 % – verurteilen Ehebruch, wie eine Studie des Meinungsforschungsinstituts WZIOM aus dem Jahre 2018 belegt. Gleichzeitig brechen 22 % der russischen Ehen wegen Fremdgehens auseinander, heißt es in einer anderen Studie des Instituts.
Die Befragten dieses Artikels sind der Überzeugung, dass Ehebruch aus zwei Gründen nicht verziehen werden könne. Wenn eine Frau betrogen wurde, bedeutet das, dass sie nicht vermochte, den Mann zu „halten“. In diesem Fall ist das Vergeben noch beschämender als die Tatsache des Fremdgehens selbst.
Zweitens glauben die Frauen in Russland, dass ein Mann erneut fremdgehen wird, wenn er dies bereits einmal getan hat.
„Viele Männer beten wie ein Mantra her, dass es ein Fehler gewesen sei und dass sie ihre Frau lieben. Aber ein Seitensprung erfolgt immer bewusst. Für mich ist er der Ausdruck einer verdorbenen Seele. In der Liebe kann es keinen Dritten geben“, sagt die 31-jährige Anastasia, die geschiedene Mutter einer 13-jährigen Tochter.
Ehebruch ist für sie in erster Linie ein Zeichen der Respektlosigkeit gegenüber dem Partner. Und es spielt keine Rolle, ob die Ehepartner ein gemeinsames Kind haben oder nicht – nach einem Seitensprung sei eine Scheidung unbedingt notwendig, sagt Anastasia.
Maria, eine 26-jährige Fotografin aus Moskau, erklärt zunächst einmal nachdrücklich, dass sie ihrem Mann einen Seitensprung nicht vergeben könne. Dass sie selbst zurzeit die Geliebte eines verheirateten Mannes ist, stört sie dabei nicht – zumindest sagt der, dass er nicht mit seiner Frau schläft.
„Da ich eine stolze und unabhängige Frau bin, würde ich einen Seitensprung nicht verzeihen und ihn zum Teufel schicken. Das ist zu demütigend“, erklärt Maria. „Ich bin mir nicht sicher, was morgen sein wird – die Beziehung [zu meinem Geliebten] ist nicht sehr vielversprechend. Aber es ist einfacher für mich, das zu sagen.“
Nach ein paar weiteren Fragen fügt Maria hinzu, dass sie bei ständiger finanzieller Unterstützung „zugunsten eines komfortablen Lebens“ dem Fremdgänger noch vergeben könne.
„Vielleicht hat seine Frau ihn deshalb noch nicht verlassen. Die dumme Pute – er ist nur wegen der Kinder immer noch bei ihr“, glaubt Maria.
Aber Frauen vergeben untreuen Ehemännern auch noch aus anderen Gründen. An einem regnerischen Oktobertag betrat die 27-jährige Buchhalterin Aljona den Flur ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Plattenbau. Als sie ihren Regenschirm abstellte, bemerkte sie ein Paar fremde Damenschuhe. Eine blonde Frau kam aus dem Badezimmer, eingewickelt in ein Badetuch. Ihr Mann war im Schlafzimmer. Aljona selbst war im vierten Monat schwanger.
„Ich muss sagen, ich habe ganz ruhig reagiert – nur am Abend gab es einen kleinen Streit“, erinnert sie sich. Diese Nacht ist für sie die abscheulichste und schrecklichste ihres Lebens. Erst nach einer dreiwöchigen Depression und zermürbenden Selbstvorwürfen beschließt sie, mit ihrem Mann zu sprechen.
Heute ist sich die verheiratete Aljona noch immer sicher, dass der erste Seitensprung wirklich vergeben werden kann, wenn man sich wirklich liebt.
„Er hat sich nur dafür interessiert, wie Sex mit einer anderen Frau ist und welche Emotionen er mit ihr erleben würde. Meistens begreifen Männer sofort, dass es besser ist, Sex mit der eigenen Frau zu haben. Er hat einen Fehler begangen, das kann schon mal passieren“, sagt Aljona am Telefon. Im Hintergrund hört man ein Baby weinen und den Wasserkocher brodeln.
Sie hatte beschlossen, ihre Geschichte anonym in einem Frauenforum zu veröffentlichen, aber dort ergoss sich ein Shitstorm über sie. „Du hast nicht auf deinen Mann aufgepasst – nun musst du es halt ausbaden, wenn du dich selbst so wenig liebst“ war ein typischer Kommentar anderer Frauen zu diesem Geständnis. Auf solche Angriffen reagiert Aljona mit stoischer Gelassenheit, weil sie glaubt, dass die Autoren nichts über ihre wahren Gefühle wissen.
Tatjana, eine 24-jährige Floristin, verzieh den Seitensprung nicht wegen ihrer Gefühle, sondern aus Angst, allein gelassen zu werden. Sie erfuhr, dass ihr Freund fremdgegangen war, als sie sein Telefon durchsuchte – er dankte seiner Ex-Frau für eine schöne Nacht, gestand ihr seine Liebe und bot ihr an, die Beziehung zu erneuern. Das war vor drei Jahren, aber sie sind immer noch zusammen – er hat den Seitensprung ehrlich bereut. Außerdem läuft die Wohnung in Moskau auf beide und Tatjana hätte die Miete nicht allein zahlen können.
„Natürlich habe ich etwas gegen Fremdgehen. Danach war es, als wäre etwas in mir gestorben. Jetzt ist es mir egal – ich denke einfach nicht mehr daran. Hauptsache, er erzählt den Freunden nicht allzu viel von seinen Abenteuern, weil es sonst peinlich wäre, ihnen in die Augen zu schauen“. Und sie fügt hinzu, dass sie selbst nichts dagegen hätte fremdzugehen, denn in letzter Zeit mache ihr der Sex mit ihrem Freund nicht viel Spaß.
Frauen seien in zwei Fällen bereit, einen Seitensprung zu vergeben – wenn sie ihn nicht als Verrat empfinden oder wenn sie nirgendwo hingehen können, sagt die Gründerin des psychologischen Online-Dienstes Helppoint Margarita Jakobson.
In Russland werde bereits bei Kindern ein Schamgefühl anerzogen, die Erwartungen anderer nicht zu enttäuschen, sagt die Psychologin. Zum Beispiel schämen sich Mütter für ihre Kinder, wenn diese später als andere zu laufen beginnen. Viele Mütter denken oft nicht über dieses Thema nach, versuchen nicht zu verstehen, ob es wichtig ist oder nicht, sondern vermitteln ihren Töchter schließlich dieses Schuldgefühl. Mit der Zeit beginnt die erwachsene Tochter selbst Angst zu haben, die Erwartungen der Gesellschaft nicht zu erfüllen.
„Die Frau denkt: Wenn mein Mann mich betrügt, ist das der Beweis, dass ich nicht gut bin. Die Tatsache, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem Betrug des Mannes und dem Verhalten seiner Freundin oder Frau gibt, ist in der Regel für niemanden von Belang“, schließt Jakobson.
Anna Domtschenko, eine Familienpsychologin mit 15-jähriger Berufspraxis, ist mit der letzten Aussage nicht einverstanden. Sie ist sicher, dass das Erscheinen einer Geliebten ein Symptom für andere familiäre Probleme ist, nicht das Problem an sich.
„Der größte Fehler einer Frau bei einem Seitensprung ist es, die Vergebung des Mannes zu erwarten, was bedeutet, dass er allein für das Geschehene verantwortlich ist. Die psychotherapeutische Behandlung von Dreiecksverhältnissen machen mehr als 35 % meiner Fälle aus. Erfolgreich lösen können dieses Problem diejenigen Ehepartner, die erkennen, dass die Schuld für das Geschehene (ob es sich nun um eine Affäre des Mannes oder der Frau handelt) bei beiden Ehepartnern liegt“, glaubt Domtschenko.
Beide Psychologinnen sind überzeugt, dass es möglich sei, die Beziehung nach einem Seitensprung durch gemeinsame Anstrengung wiederherzustellen. Der Mann muss das Vertrauen zurückgewinnen, die Frau muss verstehen, was dem Mann gefehlt hat, und diese Lücke schließen sowie versuchen, den Vorfall zu vergessen. Dann werden die Beiden gestärkt aus der Geschichte hervorgehen, glauben Experten.
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