„Wo ist Nikolskaja?“ war wohl eine der Fragen, die ausländische Fans häufig den freiwilligen Helfern bei ihrer Ankunft stellten. Oft zeigten sie auch einfach ein Bild aus dem Internet mit tanzenden und singenden Menschenmengen.
Obwohl die Straße im Zentrum auf jeder Moskauer Touristenkarte zu finden ist, da sie den Roten Platz mit Lubjanka, dem ehemaligen Sitz des KGB, verbindet, wurde Nikolskaja trotzdem nie als ein lebhafter Ort der Hauptstadt angesehen. Wenn man nach einer belebten und touristischen Straße fragt, würde man höchstwahrscheinlich Arbat oder Twerskaja empfohlen bekommen, nicht Nikolskaja.
Unerwarteter Mittelpunkt der feiernden Fans
Wie wurde die Straße während der Weltmeisterschaft zum Anziehungspunkt für alle Fußballfans? Als die etlichen Fans ankamen, neigten sie dazu, direkt zum Roten Platz zu gehen, bevor sie sich schließlich in den nahegelegenen Cafés auf Nikolskaja niederließen.
In den ersten Tagen der Fußball-Weltmeisterschaft war der Platz außerdem aufgrund der laufenden Vorbereitungen und Bauarbeiten geschlossen. Fans, die den Platz nicht betreten konnten, entschieden sich dafür, die Umgebung zu erkunden, was in den kommenden Tagen dazu führte, dass Nikolskaja eine gewisse Attraktivität bei den Fans erreichte.
Als immer mehr Fans ankamen, sahen sie die Bilder von Menschenmengen, die auf Nikolskaja sangen, tanzten und tranken, und wussten daher genau, wohin sie am besten gehen sollten um zu feiern. Die Menschenmengen zogen daraufhin Musiker, Künstler für Gesichtsfarben und Straßenverkäufer an, die von Souvenirs bis hin zum Bier alles verkauften. Außerdem erzeugten die Fans natürlich eine höhere Nachfrage in den lokalen Geschäften und Bars, die ihren Umsatz in weniger als einem Monat um das Zwei- oder Dreifache erhöhten.
„Selbst Lokale, die die Fußballspiele nicht übertragen, erleben eine verrückte Nachfrage“, bemerkte (rus) der Stadtbeamte Alexei Nemerjuk.
Um den Ansprüchen der Fans gerecht zu werden, die sich jeden Abend hierher drängten, passten sich die Geschäfte an und verlängerten ihre Öffnungszeiten. Nikolskaja habe praktisch eigenen Zeitplan angenommen, sagte eine Kellnerin in einem örtlichen Café.
„Viele Geschäfte öffnen um zehn Uhr morgens, wenn die Leute anfangen, hierher zu kommen. Sie frühstücken, trinken Kaffee und kaufen Souvenirs. Zu dieser Zeit ist es noch ziemlich ruhig, ohne irgendeinen Wahnsinn. Ab 14 Uhr bereitet sich die Straße auf das Abendspiel vor. Die Fans trinken große Mengen Bier, singen Lieder und ihre Fanparolen – es ist im Grunde eine Aufwärmphase für sie. Gegen 19 bis 20 Uhr ist die Straße voller tanzender und jubelnder Menschen, die Spaß haben. Das läutet jeden Tag so ein und hört erst in den frühen Morgenstunden wieder auf“, sagte sie.
Wo alle neuen Dinge passieren
Nikolskaja war nie ein Schauplatz für solch ein internationales Ereignis, obwohl sie bereits viele Dinge in ihrer Geschichte gesehen hat.
Benannt nach dem Kloster von Sankt Nikolaus (1390), ist Nikolskaja eine der ältesten Straßen der Stadt und kann in Russland als ein Ort der „erstmaligen Ereignisse und Dinge“ bezeichnet werden.
Dazu zählen die erste russische Druckerei, das erste gedruckte Buch „Moskauer Apostolar“ im Jahr 1594 sowie die erste von Peter dem Großen eröffnete Apotheke und die Slawische Griechisch-Latein-Schule als erste höhere Lehranstalt und Alma Mater von Michail Lomonossow. Außerdem fand hier die erste Rundfunksendung statt und das erste Fernsehstudio wurde eingerichtet, das erste Restaurant mit russischer Küche, „Slawjanskij Basar“, eröffnet und sogar die erste Bank, die bankrott ging, war in dieser Straße!
Die Straße hat außerdem orthodoxe Prozessionen und königliche Gefolge gesehen und war Zeuge der Angriffe der Oktoberrevolution und der Roten Armee auf den Kreml. Sie wurde sogar umbenannt, um das Ereignis zu markieren: von 1935 bis 1990 hieß sie „Straße des 25. Oktobers“.
Im Laufe ihrer Geschichte war Nikolskaja ein religiöses Zentrum mit einer Reihe von Klöstern und ein Wissenschaftszentrum mit Russlands erster Universität. Im 20. Jahrhundert war sie jedoch eine der wichtigsten Geschäftsstraßen in der Stadt mit großen Geschäftsstellen und einem großen Markt, der schon lange am heutigen Standort vom Warenhaus GUM existierte.
Bis vor ein paar Jahren durften Autos auf der Straße fahren. Erst im Jahr 2013 wurde die Straße modernisiert und zu einer Fußgängerzone umgestaltet.
Zurück zur Normalität?
Heute wird Nikolskaja von Restaurants dominiert, die von der Nähe zum Roten Platz und dem Kreml profitieren. Es ist eine der teuersten Straßen für die Anmietung von Flächen in der russischen Hauptstadt.
Berichten zufolge (rus) können die Durchschnittspreise für einen 100 bis 300 Quadratmeter großen Raum jährlich bis zu 150 000 Rubel, also etwa 2 055 Euro pro Quadratmeter kosten. Für das Mieten eines 66 Quadratmeter großen Raumes mit einem großen Fenster, beispielsweise für einen mittelgroßen Souvenirladen, könnten währenddessen 1,5 Millionen Rubel (etwa 20 550 Euro) pro Monat erforderlich sein. Doch trotz der hohen Raten gibt es praktisch keine freien Bereiche mehr auf der Straße – nur fünf Prozent der Flächen stehen für neue Mieter zur Verfügung.
Während das Fußballfieber den lokalen Geschäften zugute kam, wird erwartet, dass seine Wirkung nur vorübergehend ist. Laut Julia Nasarowa, Leiterin des Einzelhandelsunternehmens JLL, dauert (rus) es in der Regel mehr als ein Jahr, bis sich eine Investition auszahlt, selbst wenn sich die Einnahmen dank der Touristen verdreifacht haben.
Daher wird Nikolskaja bis Ende Juli, also nach der Weltmeisterschaft, wieder zur „normalen Geschäftigkeit“ zurückkehren.