Chefredakteur des kremlkritischen Rundfunks Echo Moskwy: „Unsere Arbeit einzustellen kommt nicht infrage.“
RIA NovostiAlexej Wenediktow: Es gibt gegen uns gerichtete Bedrohungen, aber wir können sie umleiten, manchmal nicht ohne Verluste. Das Wichtigste aber: Unsere Redaktionslinie ist öffentlich. Daher ist es unsinnig zu behaupten, uns könne es nicht geben. Wie soll es professionellen Journalismus nicht geben können, wenn es ihn offensichtlich gibt? Man muss schlicht im Hier und Jetzt gut, das heißt professionell, arbeiten, ohne daran zu denken, was morgen sein wird.
Wir leben in dieser Gefahrenwolke. Der andere Weg wäre, die Arbeit einzustellen oder den Redaktionskurs zu ändern. Für uns kommt weder das eine noch das andere infrage. Daher arbeiten wir weiter wie bisher.
Das russische Massenmediengesetz verbietet den Aktionären jedwede Einmischung in die redaktionelle Politik. Zudem ist der einzige Mensch, der die redaktionelle Richtung bestimmt, laut der Satzung des Radiosenders der Chefredakteur. Die Aktionäre können mich bitten, dieses oder jenes Interview in das Programm aufzunehmen. Ich prüfe das und komme der Bitte gegebenenfalls nach. Ich sehe keine Gründe, das nicht zu tun. Die Aktionäre können von mir fordern, profitabel zu arbeiten. Dafür habe ich Verständnis. Doch sie können mich nicht zwingen, etwas aus dem Programm zu nehmen, und sie dürfen sich auch nicht in die Redaktionspolitik einmischen.
Foto: AP
Bislang kann ich dazu nichts sagen, weil der Protest auf dem Bolotnaja-Platz durch ein konkretes Ereignis – die Wahlfälschung im Jahr 2011 – ausgelöst wurde. Die Mittelschicht – verletzt, weil ihr buchstäblich die Stimme geraubt wurde – ging damals auf die Straße, denn sie wurde bestohlen. Wenn die Wahlen heute also formal legitim durchgeführt werden und sie deshalb keine derart heftige Ablehnung bei dieser Bevölkerungsgruppe hervorrufen, dann wird es zu diesem Thema – trotz der schwierigeren wirtschaftlichen Lage als 2011 – natürlich keinen Protest geben.
Eine Strategie gibt es vielleicht, ihre Effektivität sehe ich aber nicht. Es ist allerdings auch eine philosophische Frage, was man unter „Strategie“ versteht. Präsident Putin ist bekanntermaßen ein Taktiker – im Übrigen ein recht brillanter und flexibler. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er effektiv ist. Fragt man mich, was im Vorgehen der Führung überwiegt – Taktik oder Strategie – sage ich daher: die Taktik.
Wenn ich mir auf der anderen Seite den Standpunkt Putins vor Augen führe und diesen durch die Brille des Imperialismus wahrnehme, dann scheint mir, als sei sein Ziel: der Wiederaufbau der Weltordnung und -aufteilung von Jalta und Potsdam (in diesem System spielten die beiden Supermächte Sowjetunion und die USA die Hauptrolle bei der Lösung zentraler internationaler Probleme, Anm. d. Red.). Darin besteht seine Strategie. Inwiefern diese wirklich effektiv ist, wird die Zeit zeigen. Bislang ist sie nicht so erfolgreich.
Momentan sehe ich keine Voraussetzungen dafür, dass Putin geht. Ich denke, er wird 2018 kandidieren und gewinnen. Das verschiebt den Horizont auf die Zeit nach 2024. Bis dahin kann viel passieren. Die Angliederung der Krim ging innerhalb eines Jahres vonstatten. Die Welt entwickelt sich sehr chaotisch, alle Prozesse in dieser Welt entwickeln sich chaotisch. Wer hätte vor fünf Jahren an die Krim oder an Syrien gedacht? Erst recht wird es schwierig, sich vorzustellen, wie die Welt in acht Jahren aussehen wird. Das ist Kaffeesatzleserei.
Das Problem ist der Rückstand gegenüber der schnellen Entwicklung in der Welt, technologischer Rückstand inklusive. Es ist auch die Nicht-Austauschbarkeit der politischen Eliten. Und das ist das größte Problem. Sie denken alle in Kategorien des 20. Jahrhunderts. Alles andere entspringt diesem Hauptproblem. Wenn die Menschen sich heute so sehen, wie sie vor 15 oder 20 Jahren waren, dann haben all ihre Probleme darin ihren Ursprung.
Schwer zu sagen. De facto wissen wir, dass die Annexion baltischer Staaten durch die Sowjetunion 50 Jahre andauerte, bis zum Zerfall des Staates. Heute dreht sich die Welt schneller und ein physischer Zerfall ist nicht mehr unbedingt nötig. Doch auch unter anderen Umständen wird die Krim zweifellos noch lange in der Russischen Föderation eingegliedert bleiben.
Ich weiß nicht. Wobei es für einen solchen Fall bereits ein Beispiel gibt – der am meisten mit Blut getränkte Boden Europas ist der Elsass. Zehnmal wechselte er aus Frankreichs Händen in die der Deutschen und zurück. Heute hat der Konflikt keine Bedeutung mehr, weil es heute (in der EU) keine Grenzen mehr gibt, es gibt sogar eine gemeinsame Währung. Seine Brisanz wurde dem Thema nicht durch Gebietszugehörigkeit genommen, sondern durch die Entwicklung des geeinten Europas. Ich denke, dass dieser Weg für die Lösung des Problems (der Krim) aller Wahrscheinlichkeit nach der aussichtsreichste ist. Natürlich gibt es auch einen anderen Weg: ein Referendum unter internationaler OSZE-Aufsicht. Doch man muss eingestehen, dass bei einem solchen Referendum Russland gewinnen würde.
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