1. „Buddhas Kleiner Finger“ von Wiktor Pelewin (1996)
Wiktor Pelewins erste bedeutende Erzählung kam auf Englisch unter zwei verschiedenen Titeln heraus: In den USA hieß die Geschichte „Buddha’s Little Finger “ (zu Deutsch: Buddhas kleiner Finger), in Großbritannien „Clay Machine-Gun” (zu Deutsch: Lehm-Maschinengewehr). Das scheint ein guter Titel, da die Handlung schnell zwischen verschiedenen Zeiten und Identitäten springt. Hauptsächlich spielt die Geschichte während des russischen Bürgerkriegs (1918 bis 1919), aber auch in einer Moskauer Nervenheilanstalt des Jahres 1990. Die Erzählstränge werden durch die Hauptfigur Pjotr Pustota (zu Deutsch: Pjotr Leere) verbunden, der Zweifel an seiner Gesundheit hat.
Was so verwirrend klingt, erlaubt Pelewin, einem der angesehensten Autoren Russlands, den Sprung zwischen der russischen Vergangenheit und Gegenwart. Was die Erzählung davon abhält, völlig unsinnig zu sein, ist ein Unterton von Philosophie und östlicher Spiritualität, der sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.
2. „Reise in den siebenten Himmel“ von Ljudmilla Ulitzkaja (2001)
Mit diesem Buch gewann Ludmila Ulizkaja als erste Frau den russischen Booker-Preis. Sie beschreibt, wie Geburt das Leben mit dem Tode verbindet.
Die Helden der Erzählung sind ein sowjetischer Geburtshelfer, die Frau, die er auf dem OP-Tisch rettet und in die er sich verliebt, und deren Tochter. Schwangerschaft, Wissenschaft und Abtreibung sind alles heiße Eisen, doch Ulitzkaja gelingt es, die Handlung nicht darauf zu reduzieren oder zu predigen. Stattdessen erhellt sie die subtilen Details im Leben ihrer Charaktere.
3. „Sünde“ von Sachar Prilepin (2007)
Der Protagonist von „Sünde” ist ein Spiegelbild seines umstrittenen Autors und schwebt durch eine Reihe von Vignetten, die ihm von der Jugend bis ins Erwachsenenalter folgen. Jedes Kapitel gleicht einer Kurzgeschichte und fügt ein Gefühl von Versetzung hinzu, das sich vom Thema abhebt, wenn es sich dramatischen geopolitischen Ereignissen nähert. Die letzte Einstellung ist der Krieg in Tschetschenien, und die kleinen Momente, auf die sich Prilepin konzentriert, scheinen von großer Bedeutung zu sein. Aber dies sind die Räume, wie der Autor zu argumentieren scheint, wo das Leben existiert. Das Material, das von der Entdeckung des Geschlechts über die Verwurzelung der Familie bis hin zum Leben in den Schützengräben reicht, ist eine Einladung, über die Beziehungen, die wir untereinander haben, über unsere geliebten Angehörigen und unsere Heimatländer, nachzudenken, mit denen wir uns möglicherweise niemals versöhnen können.
4. „Der Tag des Opritschniks“ von Wladimir Sorokin (2006)
Eine dystopische Zukunft, die wie eine ferne Vergangenheit wirkt, ist nichts Neues, aber Wladimir Sorokin schockt den Leser mit einem wiederauferstanden Russischen Reich. Lange bevor geopolitische Entwicklungen ihn bestätigten, beschrieb Sorokin ein zunehmend isoliertes Russland, dessen Erinnerung an glanzvolle Zeiten die Grundlage für eine große soziale Vision ist.
Die Opritschniks waren die private Garde von Iwan dem Schrecklichen, die ihren furchterregenden Ruf erlangten, als sie mit ihren schwarzen Pferden durch das Land ritten und die Bevölkerung terrorisierten. Sorokins moderne Opritschniks verfügen über modernste Technik, Laserwaffen und fahren Sportwagen, aber sie setzen die grausamen Traditionen von Massenvergewaltigungen und Plünderungen fort. Der Schriftsteller beschreibt den Tag eines Offiziers, seine Ausschweifungen und Schrecken. Aus der grotesken Parade wird eine ungewöhnliche Erkundung des modernen russischen Geistes.
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5. „Venushaar“ von Michail Schischkin (2005)
Ein großer Teil dieses hochgelobten Romans von Michail Schischkin besteht aus einem Frage-Antwort-Spiel. Der Protagonist arbeitet als Dolmetscher in einem Schweizer Flüchtlingslager, in das Asylsuchende aus den Krisengebieten der Welt strömen, vor allem aus Tschetschenien. Sie müssen ihre Fluchtgründe nachweisen und haben dafür nur wenige Antworten. Das ist nur ein Teil des Romans. Schischkins Prosa vermischt sich mit historischen Tatsachen, Fakten, Tagebucheinträgen und philosophischen Einsichten, um den Platz des Übersetzers in der Geschichte hervorzuheben. Die Geschichten, die er übersetzt, gehen über in Geschichten, die er selbst erlebt hat. Der Roman wird zum Kaleidoskop. Er ist schwer zu lesen, doch die Mühe lohnt sich.
6. „Laurus“ von Jewgeni Wodolaskin (2012)
Ein mittelalterlicher Heiler namens Arseni kann seine Geliebte nicht retten und zieht fortan durch das altertümliche Russland, um Trost und Erlösung zu suchen. Er pilgert bis nach Jerusalem, wo er auf eine Gruppe trifft, die eine Verbindung zum Göttlichen sucht. Sie gelten als heilige Narren. Arseni schließt sich ihnen an, gibt seinen Namen auf und nennt sich Laurus. Im Gegensatz zu vielen anderen Romanen setzt sich Wodolaskin in erfrischender Weise unironisch mit Themen wie Glaube, Tod, Schuld und Geschichte auseinander. Übrig bleibt der Eindruck einer zutiefst menschlichen Vorstellung, die vielleicht das enthüllt, was gemeinhin als „russische Seele” bezeichnet wird.
7. „Suleika öffnet die Augen“ von Gusel Jachina (2015)
Gusel Jachinas „Suleika öffnet die Augen“ beschreibt das Leben einer Tatarin, deren Welt vom Islam, Folklore und den ungeschriebenen Gesetzen des Dorflebens geprägt ist. Eines Tages nimmt ihr Dasein eine dramatische Wendung. Während der stalinistischen Säuberungen landet sie in einem sibirischen Straflager, bringt dort ein Kind zur Welt, lernt zu jagen und verbringt die Winter in einer kalten Baracke inmitten der Taiga. Viele Schriftsteller haben versucht, die dunkelsten Zeiten der sowjetischen Geschichte aufzuarbeiten. Jachina findet einen neuen Weg der Annäherung. Während wir Suleika auf ihrem Weg in eine unvorstellbare Hölle folgen, zeigt die Analphabetin uns einen neuen unverfälschten Blick auf die Geschichte, die wir schon zu kennen glaubten. Im Gulag scheint sie freier als in ihrem Dorf.