Die HBO-Serie „Chernobyl“ wurde mit großem Interesse in Russland - und anderen postsowjetischen Ländern - aufgenommen und löste dort sehr emotionale Reaktionen aus. Jede Episode wurde genau analysiert und in den sozialen Netzwerken kommentiert. Die kontroversen Diskussionen drehten sich um den künstlerischen Wert, das Gleichgewicht zwischen Mythos und Wahrheit und die Authentizität der Darstellung des Lebens zur Sowjetzeit. Worin sich alle einig waren: Die Besetzung ist außerordentlich gut gelungen.
(WARNUNG: SPOILER-ALARM!)
Waleri Legassow, Chemiker und erster stellvertretender Direktor des Kurtschatow-Instituts für Atomenergie, wurde unmittelbar nach dem Super-GAU nach Tschernobyl beordert, um dort Schadensbegrenzung zu betreiben. Es war seine Idee, zu versuchen, den Brand im Reaktor mit einer Mischung aus Bor und Sand zu löschen. Zwei Jahre nach der Katastrophe beging er Selbstmord. Er hinterließ Tonaufzeichnungen mit bislang unbekannten Details über die Ergebnisse der Untersuchungskommission.
Ljudmila Ignatenko war Frau eines Feuerwehrmannes, der an den Löscharbeiten beteiligt war. Sie war schwanger und besuchte ihren Mann, der im Sterben lag, regelmäßig im Krankenhaus in Moskau. Sie wusste nicht, dass sie sich damit einer Gefahr aussetzte. Ihr Baby starb kurz nach der Geburt. Ignatenko lebt noch immer in Kiew und hat später ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Die Schauspielerin Jessie Buckley spielte kürzlich auch die russische Aristokratin Maria Bolkonskaja in der BBC-Adaption von „Krieg und Frieden“.
Ljudmilas Ehemann hatte am 26. April 1986 eigentlich einen freien Tag. Sie wollten aufs Land zum Picknick. Doch in jener schicksalhaften Nacht wurde er zu den Löscharbeiten nach Tschernobyl bestellt. Er sollte nie wieder nach Hause zurückkehren. Bei seiner Beerdigung hielt Ljudmila seine Schuhe in der Hand. Seine Füße waren zu sehr geschwollen, um sie anzuziehen.
Als die Katastrophe von Tschernobyl geschah, war Boris Schtscherbina stellvertretender sowjetischer Premierminister. Er wurde mit der Aufarbeitung des Unfalls beauftragt. Er ordnete die Evakuierung der Stadt Prypjat an, koordinierte die Löscharbeiten, organisierte Maßnahmen zur Dekontamination und vieles mehr.
Im Zweiten Weltkrieg war Schtscherbina für den militärischen Nachschub via Eisenbahn verantwortlich und stieg kurz darauf schnell die Karriereleiter hinauf: Er bekleidete einen hohen Posten der Kommunistischen Partei in Sibirien und kontrollierte dort neben vielen anderen Aufgaben auch den Bau der Staudämme von Irkutsk und Bratsk, den regionalen Städtebau. Nach dem verheerenden Erdbeben in Armenien im Jahr 1988 leitete er die Aufräumarbeiten. Er starb 1990.
Der stellvertretende Chefingenieur des Atomkraftwerkes, Anatoli Djatlow, wurde als einer der Hauptschuldigen für die Katastrophe von Tschernobyl verantwortlich gemacht und verurteilt. Er soll eine Reihe unsicherer Tests angeordnet haben, die letztlich zur Explosion des Reaktors geführt hätten. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber da er an der Strahlenkrankheit erkrankt war und aufgrund der Proteste von Menschenrechtlern wie Andrei Sacharow wurde er vorzeitig entlassen. Er starb 1995.
Menschen, die den Unfall aus erster Hand miterlebten, kritisieren die Serie, weil sie Wiktor Brjuchanow sehr einseitig darstelle, nämlich unfähig. Der echte Brjuchanow war sich des Ausmaßes des Reaktorunglücks gar nicht bewusst, denn es handelte sich um die erste atomare Katastrophe der Sowjetunion. Niemand wusste, was zu tun war. Zudem hatte Brjuchanow Angst, den Parteioberen die Wahrheit zu sagen, er fürchtete um seinen Job. Er wurde ebenso wie Djatlow zu zehn Jahren Haft verurteilt. Heute lebt er in Kiew.
Laut einem seiner Untergebenen war Chefingenieur Fomin nicht der Schurke, als der er in der Serie dargestellt wird. Doch auch er wurde wie Djatlow und Brjuchanow zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Während der Ermittlungen versuchte er sich laut Medienberichten, in der Untersuchungshaft das Leben zu nehmen. Das gelang ihm nicht. Er lebt seitdem zurückgezogen von der Öffentlichkeit. Er wurde häufig mit diesem Satz von den Medien zitiert: „Ich gebe mir nur an einer Sache die Schuld. Früher dachte ich, das Wichtigste in einem Werk seien die Maschinen. Doch es scheint, als wären die Menschen noch viel wichtiger. Ich habe ihren Wert unterschätzt.”
Der leitende Reaktoroperator befand sich im Kontrollraum, als die erste Explosion das Gebäude erschütterte. Er war derjenige, der gegen Djatlows Testreihen war, weil der Reaktor noch nicht bereit war. Bei dem Versuch, das Kühlwasser wieder in den Reaktor zu leiten, setzte er sich einer tödlichen Strahlungsdosis aus. Er starb wenige Wochen nach dem Unglück in einem Moskauer Krankenhaus.
Gorbatschows Darstellung in der Serie war eines der am meisten kritisierten Themen in den russischen Medien - vor allem, weil sie einseitig war und grotesk wirkte. Einige fanden, er ähnele in der Serie eher Stalin. Mit diesem hatte er jedoch nichts gemeinsam. Die Katastrophe von Tschernobyl, erinnern Sie sich, fand im Vorfeld von Gorbatschows Glasnost und Perestroika statt. Er erklärte als einer der ersten, dass das Unglück von Tschernobyl einer der Gründe für den Zusammenbruch der UdSSR gewesen sei. Den Medien gegenüber hat er gesagt, er würde sich die Serie anschauen. Bislang hat er sich jedoch nicht weiter dazu geäußert.
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