10 unglaubliche Legenden über die Zareninsignien im Moskauer Kreml (FOTOS)

Kultur
ALEXANDRA GUSEWA
Im 19. Jahrhundert beschloss Russland, sich näher mit seiner eigenen Geschichte zu befassen. In dem Bestreben, die Vergangenheit zu verherrlichen, entstanden manchmal unglaubliche Legenden über Artefakte vergangener Zeiten.

Im frühen 19. Jahrhundert wurde Russland von den europäischen Ideen der Romantik erfasst. Und der Krieg mit Napoleon im Jahr 1812 führte zu einem Anstieg des Patriotismus.

Die russische Adelsgesellschaft begann, auf ihre Geschichte zurückzublicken, in ihr nach heroischen Momenten zu suchen, sich an Legenden zu erinnern und unweigerlich neue zu verfassen. So entstanden in dem Bestreben, die Vergangenheit zu verherrlichen, mitunter unglaubliche Legenden über Artefakte vergangener Zeiten.

Der Hofhistoriograph Nikolaj Karamsin schrieb die mehrbändige Geschichte des russischen Reiches, die laut Alexander Puschkin von allen Damen der gehobenen Gesellschaft eifrig gelesen wurde. Die Geschichte ihres eigenen Landes war bis dahin nahezu unbekannt. „Das alte Russland schien von Karamsin genauso entdeckt zu werden wie Amerika von Kolumbus“, schrieb Puschkin.

Historische Romane waren sehr beliebt, insbesondere der von Michail Sagoskin im Jahr 1829 veröffentlichte Juri Miloslawskij oder Die Russen im Jahre 1612. Es ging um die Befreiung Russlands von den polnischen Invasoren dank der Volkserhebung.

In der Zeit von Nikolaus I. (Regierungsjahre 1825-1855) war Russland vom Mittelalter und vom Rittertum fasziniert. Und Historiker begannen, nach Artefakten zu suchen, die mit den Helden der nationalen Geschichte und ihren Waffengängen in Verbindung standen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Rüstkammer des Moskauer Kremls zu einem öffenentlichen Museum.

Allerdings wurden die darin aufbewahrten historischen Reliquien manchmal mit fiktiven Beschreibungen versehen. Plötzlich wurden die berühmtesten Exponate – Rüstungen, Helme, Kronen – den großen Helden der Vergangenheit zugeschrieben.

Hier sind die unglaublichsten der vielen Legenden, die sich seit langem um diese wichtigen historischen Gegenstände ranken.

  1. Der Elfenbeinthron wurde früher dem Großfürsten Iwan III. und dem Zaren Iwan IV. dem Schrecklichen zugeschrieben.

Im 19. Jahrhundert glaubte man, dass dieser Thron aus Elfenbein ein Geschenk des byzantinischen Königshauses an Großfürsten Iwan III. (1440-1505) anlässlich seiner Hochzeit mit der byzantinischen Prinzessin Sofia Palaiologa war.

Diese Version über den Thron wurde erstmals 1807 von dem Archäographen Alexej Malinowskij ohne Angabe von Quellen geäußert. Diese Zuschreibung wurde später von anderen Historikern immer wieder aufgegriffen. Die Legende vom byzantinischen Ursprung des Artefakts wurde 1884 von den Mitarbeitern der Rüstkammer widerlegt, aber er wurde weiterhin Iwan III. zugeschrieben.

In der Sowjetzeit entstand jedoch eine neue Version. Im ersten sowjetischen Reiseführer zur Rüstkammer aus dem Jahr 1964 wurde geschrieben, dass der Thron aus dem 16. Jahrhundert stamme und Iwan dem Schrecklichen gehöre. Möglicherweise war der Grund dafür eine Skulptur aus dem späten 19. Jahrhundert, die Iwan den Schrecklichen auf diesem Thron darstellte.

Die aktuelle Zuschreibung des Throns wurde in den 1990er Jahren vorgeschlagen.

Nach dem Studium von Dokumenten aus dem 17. und 18. Jahrhundert und der Analyse des Dekors kamen die Experten der Rüstkammer zu dem Schluss, dass der Thron höchstwahrscheinlich von Moskauer Meistern angefertigt wurde, möglicherweise unter Beteiligung westeuropäischer Meister. Und dass er auf die Zeit des Zaren Alexej Michailowitsch (1626-1676) zurückgeht. Außerdem wurden der doppelköpfige Adler und einige der Elfenbeinplatten erst im 19. Jahrhundert angebracht.

  1. Die Monomach-Mütze des zweiten Krönungsgewandes wurde der altrussischen Fürstin Olga zugeschrieben

Anfang des 19. Jahrhunderts schuf derselbe Alexej Malinowskij die Legende, dass diese Monomach-Mütze (auf dem Foto) des zweiten Krönungsgewandes der altrussischen Fürstin Olga aus dem 10. Jahrhundert gehörte.

Es gibt eine berühmte Monomaсh-Mütze, die als eine der wichtigsten Insignien des Zarenrusslands gilt. Der Legende nach schickte der byzantinische Kaiser Konstantin IX. Monomachos sie und viele andere königliche Insignien und Geschenke an den russischen Fürsten Wladimir Monomach (1053-1125). Seine Mutter stammte aus einer byzantinischen Familie.

Später widerlegten Historiker diese Version und fanden heraus, dass Konstantin starb, als Wladimir erst zwei Jahre alt war. Der Ursprung der Mütze bleibt indessen ein Rätsel. Lesen Sie hier mehr über die Monomaсh-Mütze.

Die Mütze auf dem Foto ist die Monomach-Mütze des zweiten Krönungsgewandes. Nach dem Tod von Zar Alexej Michailowitsch bestiegen seine beiden Söhne – Iwan Alexejewitsch und Peter Alexejewitsch (der spätere Peter der Große) – gleichzeitig den Thron (Lesen Sie hier mehr über diese Geschichte).

So musste der jüngere Peter die Monomach-Mütze des zweiten Krönungsgewandes aufsetzten. Die beiden Zaren regierten bis zu Iwans Tod im Jahr 1696.

Zur Regierungszeit von Katharina der Große wurde 1783 die Krim erobert. 1784 nahm sie den Titel „Zarin von Chersonesos Taurica“ an. Dies war ein sehr wichtiger Schritt, denn der Legende nach wurde der altrussische Fürst Wladimir in Chersonesos auf der Krim vom byzantinischen Bischof zum Christentum getauft.

Die Monomach-Mütze des zweiten Krönungsgewandes wurde bei der Beerdigungszeremonie von Katharina der Großen verwendet und als Taurica-Krone bezeichnet.

Anfang des 19. Jahrhunderts schuf derselbe Alexej Malinowskij die Legende, dass diese Mütze der altrussischen Fürstin Olga aus dem 10. Jahrhundert gehörte. Sie war die erste russische Herrscherin, die das Christentum annahm und sich in Konstantinopel taufen ließ (Lesen Sie hier mehr über Olga). Das bedeutet, dass diese Mütze bis zu 200 Jahre älter als das Original sein könnte! Eine ganz fantastische Version, die mehr als einmal wiederholt wurde.

  1. Der Schild aus dem 12. Jahrhundert, der bei den Zarenkrönungen verwendet worden sein soll

1807 behauptete Alexej Malinowskij (wieder ohne Quellenangabe) in seiner Historischen Beschreibung der Rüstkammer des Moskauer Kremls, dass dieser Schild seit der Zeit von Fürst Mstislaw dem Großen, dem Sohn von Wladimir Monomach, bekannt sei (also seit dem frühen 12. Jahrhundert). Laut Malinowskij wurde dieser mit Edelsteinen verzierte und mit Samt benähte Schild bei Hochzeiten und Krönungszeremonien benutzt.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Schild tatsächlich bei großen Zeremonien verwendet, zum Beispiel bei den Beerdigungen der Zaren Nikolaus I., Alexander II. und Alexander III.

Im späten 19. Jahrhundert wurde entdeckt, dass der Schild im 17. Jahrhundert hergestellt und 1702 erstmals im Zaren-Inventar erwähnt worden war.

  1. Ein Helm, der Alexander Newskij zugeschrieben wird

Dieser Nasalhelm wurde vom Moskauer Kreml-Rüstungsmeister Nikita Dawydow im frühen 17. Jahrhundert für Zar Michail Fjodorowitsch, den ersten der Romanows, angefertigt. Die Spitze des Nasenschirms ist mit dem Bild des Erzengels Michael gekrönt, der ein Kreuz und ein Schwert in seinen Händen hält.

Aber im 19. Jahrhundert wurde dieser Helm plötzlich dem Fürsten Alexander Newskij zugeschrieben. Obwohl diese Version nur durch einige mündlich überlieferte Legenden belegt worden war, fand die patriotische Gesellschaft Gefallen an dieser Idee, und sein Bild wurde sogar in das Große Staatswappen des Russischen Reiches aufgenommen.

Später wurde er auch auf dem sowjetischen Alexander-Newskij-Orden abgebildet.

  1. Dmitrij Donskoj zugeschriebene Kinder-Rüstung

Experten schätzen, dass diese Rüstung mit einer Höhe von 145 cm und einer Schulterbreite von 45 cm den westeuropäischen Kavallerie-Rüstungen des 17. Jahrhunderts gleicht. Die genauen Daten zu ihrer Herkunft sind nicht bekannt, aber sie könnte in Moskau im 17. Jahrhundert für einen der Söhne des Zaren Alexej Michailowitsch im 17. Jahrhundert angefertigt worden sein. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sie für Alexej Michailowitsch selbst angefertigt wurde, als dieser noch ein Jüngling war. Es gibt schriftliche Beweise, dass zumindest ein bestimmter Auftrag für den 15-jährigen Zarewitsch tatsächlich von einem der Moskauer Hofmeister entgegengenommen wurde.

Aber im 19. Jahrhundert schrieben die Autoren der Reiseführer zur Rüstkammer diese  Kinder-Rüstung aus irgendeinem Grund Dmitrij Donskoj zu, einem Fürsten, der im 14. Jahrhundert lebte.

Der Akademiker Alexej Olenin war der erste, der auf die zweifelhafte Zuschreibung aufmerksam machte und sie für ein Hirngespinst der Autoren hielt.

  1. Ein Helm, der dem im Kampf gegen die Mongolen gefallenen Fürsten zugeschrieben wurde

Im Jahr 1809 übergab Graf Alexej Musin-Puschkin, ein berühmter Sammler historischer Artefakte, diesen Stahlhelm der Rüstkammer des Moskauer Kremls. Er behauptete, er habe den Helm in der Nähe seines Landhauses am Sit-Fluss gefunden, wo im Jahr 1238 die Schlacht zwischen Fürst Jurij Wsewolodowitsch und den Tataren-Mongolen stattfand.

Der Fürst wurde besiegt und starb in der Schlacht. Daher nahm Musin-Puschkin an, dass der Helm dem Fürsten Jurij selbst gehörte.

Im späten 19. Jahrhundert wurde der Helm untersucht, und Experten kamen zu dem Schluss, dass er im 16. bis 17. Jahrhundert im zentralasiatischen Khanat Jarkend hergestellt wurde.

  1. Der Elfenbeinkolben, der einer Femme fatale aus der Zeit der Wirren zugeschrieben wird

Der Historiker Malinowskij schrieb diesen Elfenbeinstreitkolben mit Kristallaufsatz Marina Mniszech zu, einer polnischen Adeligen und vor allem der Ehefrau zweier Hochstapler - des Falschen Dmitrijs I. und des Falschen Dmitrijs II. Sie war eine wichtige Figur in Russlands Zeit der Wirren im frühen 17. Jahrhundert. Der Legende nach wurde der Kolben von Schah Abbas an Mniszech geschickt.

Wahrscheinlich zog Malinowskij diese Schlussfolgerung nur aufgrund der Eleganz des Artefakts, aber die Legende war bis in die 1990er Jahre im Umlauf.

Moderne Historiker glauben, dass der Streitkolben in Russland hergestellt wurde. Solche Gegenstände aus Elfenbein waren am russischen Hof keine Seltenheit. Außerdem finden sich solche Gegenstände in den Inventaren der Adelsfamilie Golizyn.

Wahrscheinlich wurde dieser Elfenbeinkolben in den 1680er Jahren für eine der Töchter des Zaren Alexej Michailowitsch angefertigt. Zum Beispiel für Natalja Alexejewna, die an den Kinderkriegsspielen ihres Bruders, Zarewitsch Peter (dem späteren Peter dem Großen), teilnahm.

  1. Die Säbel, die Minin und Poscharskij zugeschrieben werden, die Russland vor den polnischen Invasoren retteten

Zar Nikolaus I. war ein großer Fan des Rittertums und des Mittelalters. Auf seinen Befehl wurden 1830 zwei Säbel aus der Dreifaltigkeits-Sergius-Lawra in die Rüstkammer des Moskauer Kremls gebracht.

Der Legende nach gehörten sie Kusma Minin und dem Fürsten Dmitrij Poscharskij, die Russland vor der polnisch-litauischen Intervention Anfang des 17. Jahrhunderts gerettet hatten. Minin und Poscharskij schenkten dann dem Kloster u. a. diese Säbel.

Höchstwahrscheinlich wurde die Legende von einem der Klostermönche erfunden, der angeblich eine alte mündliche Legende nacherzählte.

Moderne Experten aus der Rüstkammer sind sich sicher, dass sie nur „die Frucht einer romantischen Interpretation von Volkslegenden auf der Suche nach wichtigen Artefakten der nationalen Geschichte“ ist.

Diese Legende findet sich jedoch immer noch häufig in populärwissenschaftlichen Publikationen und Filmen.

Beide Klingen tragen Stempel in arabischer Sprache mit den Namen der Meister. Sie wurden im 17. Jahrhundert in Ägypten (die linke Klinge) und im Iran (die rechte Klinge) hergestellt.

  1. Zepter der byzantinischen Kaiser

Auf diesem Zepter ist die Jahreszahl 1638 eingraviert. Trotzdem behauptete Alexej Malinowskij im Jahr 1807 hartnäckig, es gehöre zu den legendären Geschenken von Monomachos, die im 11. Jahrhundert aus Byzanz geschickt wurden.

Bereits im 18. Jahrhundert schrieb der Historiker Wassilij Tatischtschew über das Zepter altgriechischer Arbeit, und selbst Katharina die Große erwähnte es in ihren Aufzeichnungen über die russische Geschichte unter den Insignien Monomachos, die in der Rüstkammer aufbewahrt werden.

Später, im Jahr 1835, vermuteten Historiker, dass das Zepter von der byzantinischen Prinzessin Sofia Palaiologa vor ihrer Hochzeit mit dem russischen Großfürsten Iwan III. im Jahr 1472 nach Moskau gebracht wurde.

In Anbetracht des Datums 1638 und der künstlerischen Merkmale des Zepters sind moderne Experten nach wie vor der Meinung, dass das Artefakt tatsächlich im 17. Jahrhundert hergestellt wurde. Es könnte von Konstantinopeler Meistern im Stil der früheren griechischen Insignien angefertigt worden sein. Dann sei es dem russischen Zaren Alexej Michailowitsch geschenkt worden.

  1. Das Kettenhemd von Jermak, Eroberer von Sibirien, in dem er angeblich in einem Fluss ertrunken sei

Auch in der Sowjetzeit tauchten Legenden über verschiedene Artefakte auf.

Dieses Kettenhemd aus dem 16. Jahrhundert trägt eine Kupferplatte mit dem Namen des Besitzers – Fürst Pjotr Schujskij. Es ist bekannt, dass er während des Livländischen Krieges im Jahr 1564 starb. Der frühere Besitzer des Kettenhemdes wurde erst 1925 angezweifelt.

Dann schlug der sowjetische Historiker Sergej Bachruschin vor, dass es sich um dasselbe Kettenhemd handele, das aus der sibirischen Stadt Tobolsk in die Rüstkammer kam. Es wurde bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Gelände der ehemaligen Hauptstadt des sibirischen Khanats gefunden.

Baсhrusсhin vermutete, dass das Kettenhemd nach dem Tod von Schujskij in die Schatzkammer des Zaren gelangte und dann von Iwan dem Schrecklichen an Jermak, den Eroberer Sibiriens, verliehen wurde. Der Legende nach soll Jermak auf der Flucht vor der Armee des sibirischen Khans unter ihrem Gewicht ertrunken sein, woraufhin dieser das Kettenhemd als Trophäe an sich nahm.

Später widerlegten die Historiker diese Legende, da es keine Quellen gibt, die belegen, dass Iwan der Schreckliche Jermak eine Rüstung verliehen hat.

Außerdem war Pjotr Schujskij Woiwode in Kasan und könnte mit diesem Kettenhemd auf Geschäftsreise nach Sibirien gewesen sein.

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