Die vierte Dimension
Während meiner ersten Reise nach Russland vor sechs Jahren kam ich in eine mittelgroße Provinzstadt namens Lipetsk. Als ich aus dem Zug stieg, hatte ich sofort das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein: Die Landschaft, Architektur, die Menschen und die Stadtplanung – alles war vollkommen anders. Mein erster Eindruck bestätigte sich jedoch erst im Laufe der Zeit. Da ich bei einer einheimischen Familie wohnte, hatte ich die Möglichkeit, den Alltag eines bescheidenen russischen Haushalts zu erleben. Auch wenn er das genaue Gegenteil dessen war, was ich immer angenommen hatte, half mir ihre Einfachheit, Freundlichkeit und Wärme mich schnell zuhause zu fühlen.
Zwei Jahre später mietete ich eine Wohnung in einer anderen Stadt. Bereits am ersten Tag erklärte mir der Besitzer, dass er mich als seinen Sohn betrachte. Er kam jedes Wochenende bei mir vorbei, unterhielt sich den ganzen Tag mit mir und lud mich außerdem zum Abendessen ein. Ihre dreijährige Tochter nannte mich Djadja, was übersetzt „Onkel“ bedeutet. In Moskau lebe ich nun in einer Kommunalka, einer russischen Gemeinschaftswohnung, mit 17 anderen Leuten. Unter ihnen gibt es eine alte Dame, die in gewisser Weise zu meiner russischen Großmutter wurde. Sie brachte mir bei, wie man traditionelle Gerichte wie Plow und Tworog zubereitet, erzählte mir oft von ihrem faszinierenden Leben und bereitete extra für mich leckere Pfannkuchen und Salate zu.
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Russland beeindruckte mich immer mit der Großzügigkeit seiner Einwohner. Einige besitzen nicht viel, teilen dennoch von Herzen gerne ihr Essen und verteilen ohne zu zögern Geschenke. Selbst wenn die Einheimischen sagen, dass heutzutage dieses Verhalten eher abnimmt, nimmt die Solidarität, ein Überbleibsel der Sowjetzeit, als Gemeinschaft die Grundlage der Gesellschaft war, immer noch einen wichtigen Platz bei den Russen ein.
Ich verbrachte zum Beispiel mal ein Jahr in Nischni Nowgorod, wo ich an der örtlichen Universität Sprachwissenschaften studierte. Für die katholischen Weihnachtsfeiertage beschlossen meine Lehrer und Klassenkameraden, Geld zu sammeln und Spiele sowie Geschenke für Kinder in einem Waisenhaus zu kaufen. Am 24. Dezember verkleidete ich mich als Weihnachtsmann und besuchte sie zusammen mit den anderen. Es war ein wunderbarer Abend. Die Kinder waren sehr glücklich und es hat mich wirklich sehr berührt.
Offenheit gegenüber anderen
Russland lehrte mich, andere Menschen mehr wahrzunehmen, humaner und offener zu sein. Ich hatte die Möglichkeit, Menschen aller Altersklassen, Moderichtungen, sozialen Klassen und Herkunftsländer kennenzulernen: Vom Obdachlosen bis hin zum Fallschirmspringer, von einer Gruppe belarussischer Minenarbeiter bis hin zum ehemaligen Museumsdirektor, vom sibirischen Fitnesslehrer bis hin zu einer Babuschka, die auf den usbekischen Baumwollfeldern arbeitete.
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Russland hat mir diesbezüglich viel beigebracht, da dieses Land ein wahres Mosaik aus Völkern und Persönlichkeiten ist. Einige Regionen besitzen zum Beispiel eine muslimische Mehrheit, während andere wiederum eine buddhistische Mehrheit haben. Das ist meiner Meinung nach fantastisch. Natürlich gab es in der gesamten Geschichte des Landes Konflikte, doch insgesamt betrachtet, geht es Russland trotz oder gerade aufgrund dieser außergewöhnlichen Völkervielfalt gut. Sie inspiriert mich sehr, denn auch in Moskau sehe ich jeden Tag Menschen, die in verschiedenen Sprachen wie Russisch, Kasachisch, Tatarisch, Usbekisch und Tschetschenisch sprechen oder verschiedene Trachten oder Accessoires tragen. Das ist unglaublich.
Am meisten hat mir Russland jedoch geholfen, die Welt anders zu sehen und zu begreifen. Ich habe erkannt, dass wir in Frankreich leider bewusst oder unbewusst einen Teil dieser Dinge ausblenden und dass es uns daran hindert, die Welt auf politischer, historischer und diplomatischer Ebene in ihrer Gesamtheit sowie in ihrer kulturellen und moralischen Komplexität und Verschiedenheit zu sehen. Ich hatte viele lange, tiefgründige Gespräche mit Menschen aus dem ganzen Land über die wichtigen Themen und selbst wenn ich nicht mit allem, was sie gesagt haben, einverstanden bin, kann ich heute den russischen Standpunkt in globalen Fragen besser nachvollziehen.
Ein Sinn für Abenteuer
Dank Russland habe ich eine gewisse Abenteuerlust entwickelt. In diesem Land geht man immer das Risiko ein, neue Dinge auszuprobieren und neuen Menschen zu begegnen. Jeder Weg kann sich schnell zu einem echten Abenteuer entwickeln. Sie können sich also vorstellen, was passieren kann, wenn Sie sich entscheiden, in eine andere Region oder Stadt zu ziehen, die mehrere hundert oder tausende Kilometer von Ihrem Zuhause entfernt ist. Darüber hinaus treffen Sie, wenn Sie Ihre Komfortzone verlassen, auf erstaunliche Menschen. Ich ging beispielsweise eines Tages nach Kasan, die Hauptstadt von Tatarstan, und übernachtete in einer Jugendherberge. Dort traf ich zwei Jungs aus Moskau, die ihrer Lieblingsfußballmannschaft durchs ganze Land folgten. Sie konnten meinen Namen nicht aussprechen, also nannten sie mich Napoleon. Wir verbrachten den Abend und die Nacht zusammen, tranken Wodka und gingen mit nackten Oberkörpern bei Schnee und minus 30 Grad Celsius nach draußen.
Nach einer Reise durch Russland habe ich immer eine Vielzahl von überraschenden oder lustigen Anekdoten zu erzählen. Russland ist auf jeden Fall ein Land, in dem es unmöglich ist, sich zu langweilen. Dort gibt es eine starke Dynamik: die Städte befinden sich in einem Zustand der ständigen Metamorphose und die Bevölkerung verbindet ein starkes Gefühl von Anstrengung, Verdienst und Selbstverbesserung, sei es im Bereich des Sports, der Kunst oder der Kultur. All dies motivierte mich sehr, Neues auszuprobieren und meine eigenen Grenzen zu überwinden.
Abschließend möchte ich hinzufügen, dass ich anfangs keine Beziehung zu Russland hatte und beschloss, Russisch einfach so zu lernen. Ich hätte auch Japanisch oder Schwedisch lernen können, doch die Bekanntschaft mit diesem Land und seinen Leuten hat mein Leben verändert. Wenn ich eine andere Wahl getroffen hätte, würde mein Leben mit Sicherheit nicht so sein, wie ich es heute führe.