Muster und Motive: Eine kleine Geschichte des russischen Stils

Skif-Kerch (CC BY-SA 4.0); Pressfoto; Legion Media
Leuchtende Farben, durchbrochene Ornamente, einfache Motive mit Tieren und Blumen – all das macht den unverwechselbaren russischen Stil aus. Wie hat er sich entwickelt?

Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie vom russischen Stil hören? Höchstwahrscheinlich Kokoschnik - der traditionelle Kopfschmuck russischer Frauen – Gschel- oder Chochloma-Malerei oder geschnitzte Fensterumrandungen. 

Wann und wie hat sich dieser Stil entwickelt? Haben die Muster eine Bedeutung? 

>>> Was steckt hinter den kunstvollen russischen Fenstereinfassungen?

Peter der Große und der Stilbruch 

Peter der Große, der nach Europa gereist hatte und diplomatische und freundschaftliche Beziehungen in die Region unterhielt, wollte zu Hause alles, was als authentisch russisch galt, loswerden. 

Er führte nahezu Krieg gegen alles Archaische und Mittelalterliche im Land. Er wollte Russland moderner und europäischer machen. Der Zar lud italienische Architekten ein, Paläste anstelle von Holzhäusern zu errichten. Er zwang die Bojaren, europäische Kleidung statt traditioneller Kaftane zu tragen, ihre langen Bärte zu rasieren und gepuderte Perücken aufzusetzen. 

Peter der Große

>>> Kartoffeln statt Bärte: Was Peter I. aus Europa nach Russland mitbrachte

In den nächsten zwei Jahrhunderten entwickelten Peters Erben die Idee eines „fortschrittlichen Russlands“ weiter. Auch die traditionelle Kirchenarchitektur wurde im 17.-18. Jahrhundert durch europäischen Barock ersetzt.

In der Hauptstadt konnte Peter den Adel und die Architektur kontrollieren. Auf dem Land lebten die einfachen Leute jedoch weiter wie bisher und auch das traditionelle Handwerk hatte weiter Bestand. 

Borok-Stil

Die Behörden versuchten nicht, die Malereien auf den Spinnrocken oder Muster und Motive im Kunsthandwerk vorzuschreiben.

Peter der Große trug auch selbst zur Entwicklung des typisch russischen Stils bei: Er brachte aus seinem geliebten niederländischen Delft Porzellan mit. Die blau-weiße Bemalung wurde später von russischen Kunsthandwerkern in Gschel kopiert. 

Gschel-Porzellan

Zurück zu den Wurzeln

Der russische Stil hätte möglicherweise nicht bis heute überlebt, wenn er nicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Adel wiederbelebt worden wäre, der sich auf der Suche nach einer nationalen Idee und Identität seinen „Wurzeln“ zugewandt hatte.

Elemente des primitiven Volksstils kamen wieder in Mode. Die High Society entdeckte den Lebensstil des einfachen Volkes für sich. Dieser Trend wurde nicht zuletzt von der Künstlergruppe Peredwischniki verstärkt, die in ihren Bildern den harten Alltag der Bauern zeigten.

Darüber hinaus entstand um die Wende des 20. Jahrhunderts die Vereinigung Mir Iskusstwa (zu Deutsch „Welt der Kunst“), die sich mit authentischen russischen Motiven in der Kunst befasste. Eine fruchtbare Inspirationsquelle dafür waren russische Märchen, was besonders in Werken von Wiktor Wasnezow deutlich wird. 

„Die drei Bogatyre“ von Wiktor Wasnezow

>>> 10 märchenhafte russische Folklore-Malereien von Wiktor Wasnezow

In der Welt der Bücher waren Illustrationen des Märchenmalers Iwan Bilibin das bekannteste Beispiel für den russischen Stil.

„Die schöne Wassilissa“ von Iwan Bilibin

>>> Russische Märchen gezeichnet von Iwan Bilibin

Russische Bogatyre und Schönheiten mit dem traditionellen Kopfschmuck Kokoschnik wurden zu beliebten Motiven in der Werbung und wurden auf den unterschiedlichsten Verpackungen abgebildet. 

„Volksschokolade“

>>> Der Kokoschnik: Acht faszinierende Fakten über die russische Kopfbedeckung

Auch im Theater wurde der russische Stil sehr populär. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte der Impresario Sergei Djagilew seine berühmten „Russischen Saisons“ nach Europa und vereinte so Kunstausstellungen, Ballett und Oper. Die bekannteste Produktion seines Ensembles „Ballets Russes“ war „Der Feuervogel“ von Igor Strawinski. Der Künstler Leon Bakst, Mitglied der Vereinigung Mir Isskustwa, entwarf die Kostüme und das Bühnenbild.  

>>> Léon Bakst: Sensation der Djagilew-Saisons

Russische Motive tauchten auch bei der Innenraumgestaltung wieder auf, als gekachelte Öfen und traditionelle Stickereien in Mode kamen. Die Schmuckkünstler folgten: Fabergé und andere Meister begannen, Geschirr und kostbare Schmuckstücke im Stil des mittelalterlichen Russlands zu kreieren. 

Der Höhepunkt seiner Renaissance erlebte der russische Stil anlässlich der Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag der Romanow-Dynastie im Jahr 1913.  Die Gäste des legendären Kostümballs sollten sich im Stil der Zeit vor Peter dem Großen und seinen Reformen kleiden.  

Russischer Stil in der Architektur 

Aber natürlich fand der russische Stil seinen offensichtlichsten Ausdruck in der Architektur. Das wurde besonders von Kaiser Alexander III. gefördert, einem Konservativen und Verfechter traditioneller Werte. Er wurde oft mit einem russischen Bären verglichen. Sein kräftiger Bart bildete einen  starken Kontrast zu den eleganten, dünnen Schnurrbärten seiner Vorgänger.

Es war Alexander III., der den Bau der Bluterlöser-Kirche in St. Petersburg im sogenannten pseudorussischen Stil mit ihren farbigen Kuppeln und Mosaiken genehmigte. Das Gebäude, das so sehr aus dem sonstigen Erscheinungsbild der Kaiserstadt von Peter dem Großen heraussticht, wurde zwischen 1883 und 1907 erbaut und ist der im 16. Jahrhundert errichteten Moskauer Basilius-Kathedrale sehr ähnlich.

Bluterlöser-Kirche in St. Petersburg

Für den pseudorussischen Baustil gibt es auch in Moskau viele Beispiele. Im 19. Jahrhundert wurde neben dem Kreml das vom Architekten Wladimir Sherwood entworfene Gebäude des Historischen Museums errichtet. Damit es sich in das architektonische Ensemble des Roten Platzes einfügte, wurde das Gebäude aus roten Backsteinen erbaut und hatte zahlreiche charakteristische dekorative Merkmale - Bögen, Tropfenverzierungen und andere für die Holzarchitektur der alten Rus typische Details. 

Staatliches Historisches Museum

Bald nach dem Bau des Historischen Museums wurde in der Nähe im ähnlichen Stil das Gebäude der Stadtduma errichtet (heute beherbergt es das Museum des Vaterländischen Krieges von 1812).

Das Gebäude des Museums des Vaterländischen Krieges von 1812

Als der Kunstsammler Pjotr Schtschukin das Gebäude für ein zukünftiges Museum für russische Antiquitäten in Auftrag gab, wollte er, dass es den traditionellen Kammern russischer Bojaren ähnelte. In der Sowjetzeit beherbergte das Gebäude das Biologische Museum Timirjasew. 

Biologisches Museum Timirjasew

Es gab auch Gebäude, die die Holzarchitektur des 16.-17. Jahrhunderts imitierten. Zum Beispiel hat das Haus des slawophilen Michail Pogodin in Moskau zahlreiche Holzmuster und geschnitzte Elemente, wie so viele Gebäude in ganz Russland.

Das Haus von Michail Pogodin

>>> Von mondän bis einfach: 12 sehenswerte Holzhäuser in Moskau

Im 20. Jahrhundert entwickelten die Architekten eine phantasievolle Kombination aus pseudorussischem Stil und Jugendstil. In diesem Stil wurde beispielsweise der von Fjodor Schechtel entworfene Bahnhof Jaroslawl in Moskau gebaut.

Bahnhof Jaroslawl in Moskau

Moderner russischer Stil 

In den 2000er Jahren wurde der traditionelle russische Stil erneut wiederbelebt. Das wurde als Neohistorismus bezeichnet. Auf dem Moskauer Gut Kolomenskoje wurde der Holzpalast von Zar Alexej Michailowitsch, dem Vater von Peter dem Großen, nach alten Skizzen restauriert.

Holzpalast von Zar Alexej Michailowitsch

Im Freizeit- und Kulturpark Ismailowo wurde der dortige Kreml im Stil der russischen Architektur des 16.-17. Jahrhunderts errichtet. 

Ismailowo-Kreml

Traditionelle russische Motive haben auch die Unternehmer inspiriert: In den Provinzen gibt es Hotels, die Besucher einladen, in einer traditionellen russischen Hütte zu übernachten oder in einer echten russischen Banja zu entspannen.

In den letzten Jahren haben immer mehr russische Restaurants eröffnet, die sowohl traditionelle russische Küche als auch eine moderne Interpretation bekannter Produkte und Rezepte anbieten. Eine der bekanntesten Restaurantketten im russischen Stil, MariVanna, hat Niederlassungen in London, New York, Moskau und Baku und verspricht ihren Kunden den „echten russischen Geist“. 

>>> Essen und Genießen in Moskau: Die besten Restaurants mit russischer Küche

Modedesigner, sowohl international bekannte als auch ihre weniger bekannten russischen Kollegen, begannen, nationale russische Motive in ihren Kollektionen zu verwenden. Viele Elemente beziehen sich auf traditionelle Muster und Handwerkskunst, sei es Spitze, Blumen auf Pawlowski-Possad-Schals oder das typische blau-weiße Gschel-Muster. 

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!