Kunst am Rande der Welt: Das zeitgenössische Kulturzentrum in Wladiwostok

Kultur
ALEXANDRA GUSEWA
Eine der ehemaligen stalinistischen Fabriken im Fernen Osten hat sich in einen der interessantesten Orte für zeitgenössische Kunst verwandelt und beschert der russischen Stadt Wladiwostok zurzeit eine kleine „kulturelle Renaissance“.

In den letzten Jahrzehnten wurden die umgebauten roten Ziegelfabriken bevorzugt als Treffpunkte der urbanen Boheme in Russland genutzt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, zeitgenössische Kunst zugänglich und genießbar zu machen. Mitte der 2000er Jahre wurden die ersten Lokale, wie das in einer der ältesten Weinfabrik Moskaus beheimatete Kunstzentrum „Winsawodz“ oder das Museum für zeitgenössische Kunst „Garage“ in einer konstruktivistischen Busgarage der 1920er Jahre eröffnet.

In den frühen 2000er Jahren hat das Wort „Art“ direkt in die russische Sprache Einzug erhalten und wird seitdem fast überall verwendet, wenn hervorgehoben werden soll, dass ein Ereignis, eine Institution oder ein Objekt künstlerisch kreativer ist, als man es vielleicht erwartet.

Mittlerweile hat sich dieser Begriff sogar im Museum für zeitgenössische Kunst in Perm (PERMM), der Ural Industriebiennale in Jekaterinburg und dem russischen Fernen Osten etabliert.

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Kultureller Sonnenaufgang im Fernen Osten

Auch die russische Stadt Wladiwostok besitzt ein paar staatliche Kunstgalerien: Die Erste Staatsgalerie (PSPG) wurde in den 1960er Jahren gegründet und beherbergt Kunstwerke aus der staatlichen Tretjakow-Galerie, der Eremitage sowie anderen bedeutenden Kunstinstitutionen.

Die PSPG zeigt unter anderem die Arbeiten von Walentin Serow, Marc Chagall, Wassilij Kandinskij und anderer bekannter Künstler. Eine weitere Galerie, die ARKA, war bis zum Jahr 2013 Wladiwostoks wichtigste Institution für zeitgenössische Kunst und wurde dann von dem neuen Kreativ-Cluster in der früheren sowjetischen „Sarja Textilfabrik“ abgelöst.

„Sarja“ wurde auf die persönliche Initiative des Philanthropen Alexander Metschetin hin in die Wege geleitet und hat sich zu einem sozial fokussierten Projekt mit freiem Eintritt, einer Bibliothek, Vorträgen und Unterricht für Kinder entwickelt. Zudem bietet es Künstlern Residenzstipendien und Ateliers an, für die man sich bewerben kann.

Der Name „Sarja" lässt sich mit „Sonnenaufgang“ übersetzen und wurde in der Sowjetzeit bewusst für viele sowjetische Gegenstände – wie beispielsweise Uhren, Haushaltsgeräte, Zeitungen und vieles mehr – verwendet. Das Wort sollte vor allem Hoffnung, den Anbruch eines neuen Tages und einer neuen Ära symbolisieren.

Lokaler Widerstand

„Der größte Teil unseres Ausstellungsprogramms umfasst zeitgenössische Kunst“, sagte die Chefkuratorin Alisa Bagdonaite Russia Beyond. „Aber wir können nicht ausschließlich supermoderne Objekte ausstellen, weil die ortsansässigen Menschen damit nicht sehr vertraut sind.“

Eine der ersten Ausstellungen, die Bagdonaite kuratierte, war ein feministisches Projekt. Sie fand, dass dieser Umstand etwas Symbolisches hätte, da zuvor viele Frauen jahrzehntelang in der Textilfabrik gearbeitet hatten. Die ehemaligen Arbeiterinnen, die nach ihrer Schließung aus der Fabrik geworfen wurden, wollten jedoch nicht an diesen Ort zurückkehren, zudem schien der feministische Blickwinkel nur für ein kleines Publikum relevant zu sein. Die allgemeine, meist patriarchalische Öffentlichkeit war nicht sehr begeistert und hatte eine negative Einstellung gegenüber der Ausstellung.

Also beschloss Alisa, ihren Ansatz zu überdenken. „Ich habe begriffen, dass die kreative Szene in Wladiwostok sehr weit von den wichtigen kulturellen Ereignissen und Phänomenen entfernt war, die dort nie vorgestellt, erklärt oder diskutiert wurden. Den Menschen fehlte der Kontext.“

Aus diesem Grund begann sie Retrospektiven anzubieten. „Wir waren der erste Kunstraum in Russland, der die Geschichte der kinetischen Kunst erzählt hat die Kunst der Avantgarde als Ausgangspunkt genutzt hat“, sagt Bagdonaite.

In der Regel bietet „Sarja“ zwei zeitgleiche Ausstellungen an: Die eine zeigt die geschichtlichen Aspekte und erforscht das aktuelle Thema, während die andere das gleiche Thema aus einem anderen, alternativen Winkel zeigt. Im Falle der kinetischen Kunst gab es beispielsweise zwei kleine Satellitenausstellungen, die die zeitgenössische Entwicklung dieser Kunst in sozial fokussierter Aktionskunst und in den neuen Medien widerspiegelten.

Dieser Ansatz brachte gute Ergebnisse hervor und nun statten dem Kunstzentrum etwa 40 000 Menschen pro Jahr einen Besuch ab.

Fernöstliche Identität

Eines der Hauptziele von „Sarja“ ist es, die lokale Landschaft und das Leben zu reflektieren. Kürzlich wurde dort die Ausstellung „Architektur: Zum Optimismus verurteilt“ eröffnet, die sich auf die Entwicklung der architektonischen Methoden in Russland, von den ersten Experimenten des 18. Jahrhunderts bis hin zur Avantgarde von Rodtschenko und Tatlin, konzentriert.

In chronologischer Reihenfolge angeordnet widmet sich die Ausstellung Wladiwostoks Stadtentwicklung und zeigt unter anderem einen seltenen offiziellen städtischen Übersichtsplan aus dem 20. Jahrhundert, der deutlich macht, wie die Architekten nicht auf die lokalen Hügellandschaften achteten, sondern nur lineare Konstruktionen planten, in denen der Hafen das Zentrum bildete.

Die fünf spannendsten Street-Art-Objekte auf dem „Sarja“-Gelände:

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