Wie der Russen Liebe zur Angst die ersten Europäer (v)erschreckt

Lifestyle
MARIA GRIGORJAN
Das Wort Quest bedeutet eigentlich Abenteuerreise eines Ritters oder Helden. Heute kann jeder so ein Held sein – wenn er nur die Nerven behält. In Russland sind solche Rollenspiele seit einigen Jahren sehr beliebt, "Morpheus" versucht nun die Expansion ins Ausland. Mit einigen Überraschungen.

Man führt Sie in einen engen Raum. Man verbindet Ihnen die Augen. Dann setzt man Sie und die ganze Gruppe in einer Reihe auf Stühle. So kann es beginnen, ein Quest – ein Rollenspiel, das Sie aus Ihrem Alltag zu entfliehen hilft. Um Sie herum werden seltsame, vielleicht auch erschreckende Dinge passieren. Eine Stimme ruft: „Ich töte ihn mit einem Skalpell!“. Dann können Sie nur noch hoffen, dass die Flüssigkeit, die auf Ihre Hände tropft, doch nur Wasser ist, und kein Blut. Wer schwache Nerven hat, reißt sich hier bereits die Binde von den Augen. Für ihn ist das Spiel hier zu ende.  

Ein solches Quest ist ein interaktives Theaterstück – mit nur fünf Zuschauern, die alle auch bald zu Protagonisten des Geschehens werden können. Dieses konkrete Stück fragt: Wie viel Angst können und wollen wir freiwillig ertragen? Auf der Suche nach der Antwort darauf entstand im Jahr 2015 das Start-Up-Quest Morpheus. Mittlerweile werden die Rollenspiele in 17 russischen Städten veranstaltet. Und nun soll es noch weiter gehen: Die erste Niederlassung im Ausland ist eröffnet worden.

Das Besondere bei Morpheus ist: Durch die verbundenen Augen verstärken sich alle Sinnesempfinden rund um die Zuschauer-Protagonisten. Plötzlich hat jeder neue Geruch eine Bedeutung: nach Medikamenten wie in einem Krankenhaus, nach einem Duftbaum wie im Auto oder nach Leder und Rauch wie die Jacke eines Bikers oder Soldaten. Und alles um Sie herum können und sollen Sie berühren – die blutige Watte im Mülleimer,  den Skalpell im OP-Raum, Schokolade und Computer auf dem Schreibtisch. Und haben Sie die Ampullen in der Hosentasche des Soldaten gesehen?

Der Spielleiter erzählt mit seiner düsteren Stimme, was um Sie herum geschieht. Aber die großen Ereignisse erschaffen Sie und Ihre Vorstellungskraft. Ein zweiter Schauspieler kommentiert und erklärt, wer was tut – wo es wie riecht, dass mit einer Pistole geschossen wird, dass ein Fenster eingeworfen wurde. Immer wieder müssen die Spieler im Laufe der Handlung eine moralische Wahl treffen: weglaufen oder bleiben, helfen oder töten.

Zu gruselig für Europa?

Im Februar 2018 eröffnete die erste Morpheus-Kammer in Europa – im kroatischen Zagreb. Das Interesse war sofort groß, aber die ersten Reaktionen dennoch mehr als überraschend. Natürlich hat jeder Spieler immer das Recht, die Augenbinde abzunehmen und das Spiel zu verlassen, wenn er sich doch zu sehr fürchtet. nach Angaben der Organisatoren haben in bisher über 5000 Spielen gerade einmal 200 Personen diese Option gewählt. Also gerade einmal vier Prozent.

In Zagreb fand das Quest bislang 37 Mal statt. Dabei hat in der Hälfte der Veranstaltungen wenigstens ein Spieler das Stück verlassen. In fünf Fällen muss gar geradezu eine Panik das gesamte Zuschauerteam erfasst haben, das das Stück daraufhin beendete. Zu denen, die vorzeitig ausschieden, gehörte übrigens auch der bekannte kroatische Politiker Ivan Pernar. Er ging in der siebten Minute – und stellte damit auch noch einen Spielrekord auf.

Die Psychologin Tathana Ganijewa erklärt sich diese deutlichen Unterschiede damit, dass diese Art Quests in Russland so beliebt sind, weil Russen im Laufe ihres Arbeitsalltages oft sehr viele negative Emotionen anstauen. In Europa ist die Arbeitsatmosphäre zumeist weniger angespannt, darum schockierten solche Rollenspiele die Menschen dort oft mehr, als dass sie sie entspannten.

Den Morpheus-Organisatoren verursacht das jedoch keine Bauchschmerzen, denn: „Zum Glück haben wir uns da ein sehr flexibles Format ausgedacht“, so der Co-Autor Nikita Proskurjakow. „Vor drei Jahren noch haben wir den Angst-Anteil im Drehbuch noch angezogen und uns so den furchtlosen Russen angepasst. Jetzt gestalten wir es für die Ausländer eben wieder weniger gruselig! Früher haben wir immer nur geografische Namen verändert, jetzt passen wir eben auch das Angst-Level an. Für uns selbst ist das ja auch sehr spannend, wie das dann in Los Angeles aussehen wird, wo in ein paar Monaten die ersten Spiele starten sollen.“

Echte Gefahr oder nur Adrenalin-Kick für die Nerven?

In Russland gibt es schon seit einigen Jahren eine Vielzahl verschiedener Quest-Projekte, darunter viele mit einem gewissen Grusel-Ansatz. Oft spielen auch professionelle Schauspieler mit, die die Zuschauer dann teilweise bis zur Hysterie bringen können. Aber wozu das alles?

Die Morpheus-Gründer Alexander Knjasew, Pjotr Kopylow und eben Proskurjakow verstärkt jede neue starke bis extreme Emotion das Lebensgefühl und Bewusstsein. Dazu gehöre eben auch das Erleben von großer Angst – und das Überwinden natürlich. Darumgebe es ja so viele Horrorfilme und –literatur sowie die zahlreichen Extremsportarten für Adrenalinsüchtige. Denn der Ausstoß jenes Angsthormons regt bekanntermaßen die Produktion von Dofamin an, dem Hormon der Zufriedenheit bzw. des Glücks.

„Solche kleinen  ‚Angst-Impfungen‘ können die Stimmung eines Menschen sehr verändern, die Person viel widerstandsfähiger gegenüber möglichen Stresssituationen machen“, so die Psychologin Ganijewa. „Aber: Das alles kann nur so lange positiv wirken, so lange die Person auch sicher sein kann, dass keine reale Gefahr droht, die Situation unter Kontrolle ist.“

Wenn Sie auf der Suche nach dem großen Adrenalin-Kick nach Russland kommen möchten, haben wir hier die nötigen Tipps:

>>> Aus eigenen Kräften durch den wilden Osten: Vier Extrem-Reisen durch Sibirien

>>> „Russisch Roulette“ in Russland: Vom Schmerz zum Spaß am morbiden Nervenkitzel

>>> Warum Ausländer nach Russland kommen, um Fallschirm zu springen

>>> Escape Games in Moskau: Spiel auf Zeit sind voll im Trend

>>> Neustart auf der Krim: Escape Games mit Daria

>>> Panzer und Eistauchen: Abenteuerliche Ideen für Ihren Urlaub in Russland