Gibt es in Russland eine Diskriminierung der Männer?

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WICTORIA RJABIKOWA
In Russland ist es üblich, dass ein Mann in einem Restaurant für eine Frau bezahlt, in öffentlichen Verkehrsmitteln den Sitzplatz freigibt und für sie sorgt, damit sie ihm Aufmerksamkeit schenkt. Einige Männer sehen dies als Diskriminierung an und kämpfen gegen die Verletzung ihrer Rechte.

„Ich will keine Familie mehr haben. Ich will keine Kinder haben. Meine persönliche Erfahrung und die Analyse dessen, was um mich herum passiert, haben mir jeden Wunsch genommen. Ich habe meine rosa Brille abgenommen“, erklärt der 37-jährige Moskauer Logistiker Sergej Gerassimow.

Sergej ist Mitglied der Netz-Community Männerbewegung, die vor vier Jahren populär wurde. In der Gruppe verurteilen Männer massiv die Wehrpflicht, Unterhaltszahlungen und das höhere Renteneintrittsalter für Männer (in Russland gehen Frauen mit 60 und Männer mit 65 in Rente). Die Mitglieder dieser Community betrachten dies als Diskriminierung gegenüber dem männlichen Geschlecht. Sie organisieren Kundgebungen zur Abschaffung von Unterhaltszahlungen und Wehrpflicht sowie zur Einführung eines Gesetzes, dass nach einer Scheidung den Vätern das Sorgerecht zuerkennt.

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Es gibt keine konkreten Statistiken über geschlechtsspezifische Diskriminierung in Russland, aber hier sind einige Daten: Russland ist eines der führenden Länder bei der Zahl der weiblichen Führungskräfte, aber Männer verdienen im Durchschnitt ein Drittel mehr als Frauen. Der stellvertretende Präsident des Sicherheitsrates und ehemalige Ministerpräsident Dmitri Medwedjew räumte im März 2019 das Problem der Geschlechterdiskriminierung ein und erklärte, dass Frauen größere Schwierigkeiten haben, einen beruflichen Aufstieg zu erreichen als Männer. Und eine WZIOM-Umfrage belegt, dass 68 % der Russen keine Frau als Präsidentin sehen möchten.

Gibt es also eine Diskriminierung der Männer in Russland und wenn ja, worin zeigt sich diese?

Frauenerziehung und Sklavenarmee

Sergej Gerassimow war fünf Jahre lang verheiratet und seine Ehe wurde auf Initiative seiner Frau geschieden. „Sie hörte auf die Ratschläge ihrer Freundinnen und las die Tipps der Plattform Wie finde ich einen Prinzen auf einem weißen Pferd. Sie war ein naives Dummerchen, aber in allem anderen ein sehr guter Mensch. Wahrscheinlich das beste Weib, das ich je hatte. Ich habe ihr prophezeit, dass sie versuchen werde, zurückzukommen, wenn ihr neuer Macker sie wegjagt. Frauen sind alle so“, glaubt Gerassimow.

Sergej schloss sich eineinhalb Jahre nach seiner Scheidung der Männerbewegung an. Er betont, dass die Scheidung nichts mit der Änderung seiner Ansichten zu tun habe, aber irgendwann „hatte er eine Erleuchtung“ und erkannte, dass die Männer in Russland seit vielen Jahren unterdrückt werden.

Er ist sich sicher, dass alles bereits in der Kindheit beginnt: Mutter und Großmutter pflanzen die Grundlagen des matriarchalischen Denkens in das Bewusstsein des zukünftigen Mannes ein.

Sergej betrachtet die Wehrpflicht für die russische Armee als „legale“ Diskriminierung der Männer. Seiner Meinung nach können die junge Frauen studieren, sich ausruhen und Zukunftspläne schmieden, während die Männer ein Jahr lang in der „Sklaverei“ verbringen. Gleichzeitig machen sich Frauen über diejenigen lustig, die beschlossen haben, sich um den Wehrdienst zu drücken, und betrachten sie nicht als „echte Männer“.  

Eine weitere „legale Diskriminierung der Männer“ ist das Recht einer Frau auf Abtreibung in Russland ohne Zustimmung oder gar Benachrichtigung des Kindesvaters. Laut Gerassimow existiere in Russland der Begriff der Vaterschaft überhaupt nicht.  

„Bei uns gibt es alles für Frauen: Wir haben das Mutterschaftskapital (eine einmalige Zahlung bei der Geburt eines Kindes) und Leistungen für alleinstehende Mütter. Und es gibt eigentlich keinen Vater – es gibt nur eine Person, die nach einer Scheidung zur Zahlung von Unterhaltszahlungen verpflichtet ist“, erklärt Gerassimow.

Seiner Meinung nach ist es in Russland notwendig, das Mutterschaftskapital abzuschaffen und eine gemeinsame Leistung an Ehefrau und Ehemann zu zahlen (in Russland können nicht nur Frauen, sondern auch Männer das Mutterschaftskapital erhalten, vorausgesetzt, dass ein Mann ein Kind adoptiert hat oder die Kindesmutter gestorben ist oder ihre elterlichen Rechte verloren hat) sowie die Vermögenteilung im Falle einer Scheidung aufzuheben.

Diskriminierung im Detail

Am 18. Juli 2019 wurde in einer der Linien der der Moskauer U-Bahn eine Durchsage eingeführt, die die Fahrgäste dazu auffordert, den Sitzplatz an Behinderte, ältere Menschen, Fahrgäste mit Kindern und Frauen abzutreten. Zuvor verlangte die Durchsage lediglich, für schwangere Frauen aufzustehen. Der Moskauer Nikita Orlow empfand die neue Durchsage als Diskriminierung und reichte eine Petition für deren Aufhebung ein. Die Petition erhielt 2174 Unterschriften.

„Mir wurde noch nie ein Platz in der Metro angeboten, höchsten als ich noch ein Kind war. Aber auch ich bin ab und zu müde. Ist das fair?“, fragt Alexander, ein 29-jähriger Lebensmittelanalytiker, der über die neue Durchsage empört ist.

Seiner Meinung nach hat ein Mann auch das Recht, in einem Restaurant für eine Frau nicht zu bezahlen, wenn er dies nicht will. Gleichzeitig kann nach seinen Worten in Russland eine Frau Männerberufe erlernen (im August 2019 veröffentlichte das Arbeitsministerium der Russischen Föderation eine neueListe mit Berufen, für die die Arbeit von Frauen eingeschränkt ist. Statt 456 enthält sie nur noch 100 Berufe). „Für Männer gibt es keine solche Liste, aber ein Mann, der in Russland einen Manikür- oder Epilier-Salon betreiben will, wird in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stoßen – er wird sofort als Homosexueller abgestempelt“, erklärt Alexander.

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Druck auf Männer und Frauen

Der 33-jährige Nikolai, Schneider für Maßkleidung, ist sich sicher, dass es in Russland keine Diskriminierung gibt.

„Alles, was als Diskriminierung von Männern oder Frauen erscheint, gleicht sich in Wirklichkeit aus. Männer haben die einen Problem, Frauen andere. All dies harmoniert miteinander und hat eine nachvollziehbare Grundlage – man muss einander nur zuhören und verstehen“, ist Nikolai sich sicher.

Ruslan, ein 22-jähriger Zahnmedizinstudent, glaubt, dass nur Männer über Diskriminierung klagen, die „nicht ans Leben angepasst sind“.

„Es gibt Männer, die sich unter Frauen unwohl fühlen, die nicht wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen, wie sie zuhören und deren Wünsche verstehen können, die nicht wissen, wie sie erklären sollen, was sie fühlen und was sie wollen. Aber es ist alles ihre Schuld, nicht die der Frauen – es gibt keine Diskriminierung“, argumentierte Ruslan.

Er fügte hinzu, dass selbst die Armee von Männern geschaffen wurde und daher „Männer sich selbst diskriminieren“.

Die Soziologin Irina Kosterina ist sich sicher, dass es in Russland keine Diskriminierung von Männern gibt, da Frauen nie bewusst die Möglichkeiten für Männer begrenzt haben.

„Logischerweise müssten sich die bösen Frauen doch zusammensetzen und entscheiden, dass die Männer unterdrückt werden sollten, also schicken wir sie in die Armee. Oder dieselben bösen Frauen würden entscheiden: Lasst uns überlegen, dass die männliche Hauptrolle die Rolle des Vaters und Ehemannes ist, sonst ist er ein Verlierer, und wir werden ihn verachten. Aber nein, es sind nicht die Frauen, die die Männer in die Armee schicken – es ist der Staat, der hauptsächlich von Männern geführt wird“, sagt sie in einem Interview mit The Village.

Sie ist überzeugt, dass Russland sich gegenwärtig auf der Stufe des Neopatriarchats befindet – Frauen verfügen über Macht und Rechte, aber sie sind auch in bestimmten Dingen eingeschränkt.

„Weibliche Taktiken des Widerstands gegen das Patriarchat werden heute als ,weibliche Machtʻ bezeichnet – wenn Frauen gezwungen sind, zur Erreichung ihrer Ziele zu manipulieren, weil sie ihre Macht nicht so offen ausüben können wie Männer. Aber solche Manipulationen kann man nicht als Sexismus bezeichnen“, meint die Soziologin.

Die Familienpsychologin Maria Michailowa wiederum ist der Ansicht, dass Diskriminierung sowohl Männer als auch Frauen unter Druck setzt. „Zum Beispiel wird von einer Frau verlangt, dass sie kochen und sich um den Haushalt kümmern kann, und von einem Mann, dass er etwas von Technik versteht. Die öffentliche Meinung toleriert oft nicht, wenn Männer weinen oder anderweitig ihre Emotionen ausdrücken, und hält einige Berufe für ausschließlich weiblich“, erzählt Michailowa.

Die Psychologin ist der Überzeugung, dass Männer und Frauen nicht fordern sollten, die Rechte des jeweils anderen Geschlechts einzuschränken, sondern über ihre Probleme sprechen und Fälle von geschlechtsspezifischer Diskriminierung aufzeigen.

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