RBTH: Wie haben sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen im letzten Jahr verändert?
Sergej Katyrin: Der russische Außenhandel ist eingebrochen. Das betrifft die meisten Handelspartner Russlands. Leider gehören die Staaten der EU und die USA zu den Ländern, die vom Handelsrückgang am stärksten betroffen sind – ein Minus von 30 bis 40 Prozent. Der Handelsumsatz Russlands und der EU betrug 2013 rund 386 Milliarden Euro. Im vergangenen Jahr fiel dieser Wert nominal auf 213 Milliarden. In realen Größen sind russische Exporte in die Europäische Union jedoch gestiegen.
Welchen Anteil haben die Sanktionen gegen Russland an der rückläufigen Entwicklung des Außenhandels?
Die Situation ist weniger durch westliche Sanktionen und unser Lebensmittel-Embargo zu erklären, sondern vielmehr durch das schrumpfende Bruttoinlandsprodukt in Russland, durch nachlassende Investitionen, den Nachfragerückgang auf dem Binnenmarkt und den Verfall der heimischen Währung.
Die Sanktionen hatten also keine Auswirkungen?
Sie sind sekundär. Der größte Schaden, den sie verursacht haben, ist die vergiftete Atmosphäre. Sie haben das Vertrauen, das über Jahrzehnte zwischen Russland und dem Westen gewachsen war, zerstört. Nun herrscht die Unvorhersehbarkeit: Der Abnehmer hat keine Sicherheit, dass er die bestellte Ware bekommt; der Verkäufer weiß nicht, ob er liefern kann. Wenn Sie Zahlen brauchen, dann schätzt etwa das russische Ministerium für Wirtschaftsentwicklung den Schaden durch die EU-Sanktionen im vergangenen Jahr auf 25 Milliarden Euro. Dadurch ist Russlands BIP den Ministeriumsberechnungen zufolge um eineinhalb Prozent gesunken.
Gibt es Hoffnung auf eine Belebung der Konjunktur in diesem Jahr?
Man braucht schon überschwänglichen Optimismus, um mit einer baldigen Erholung zu rechnen. Dennoch: Russische und westliche, besonders westeuropäische, Unternehmer haben ein enormes gegenseitiges Interesse an der Weiterentwicklung ihrer Geschäftsbeziehungen. Unternehmen, die hauptsächlich in unsere Wirtschaft investieren, sind weiterhin in Russland aktiv. Niemand will die Koffer packen – die Firmen rechnen langfristig mit Russland und sind überzeugt, dass die russische Volkswirtschaft mit zunehmender Erholung eine der profitabelsten der Welt sein wird.
Einige Firmen – vor allem die, deren Produkte von den Sanktionen betroffen sind – haben den russischen Markt aber bereits verlassen. Der Staat hat angekündigt, dass russische Produzenten diese Lücke füllen sollen. Wie sieht das in der Praxis aus?
Die Importsubstitution hat im Rüstungssektor und in der Landwirtschaft Fahrt aufgenommen. Die Produktion hat in diesen Branchen – im Großen und Ganzen – das Vorkrisenniveau bereits erreicht. Spitzenreiter ist dabei der Agrarsektor: Allein die Geflügelherstellung wuchs in sieben Monaten um 28 Prozent. Auch die Pharmaindustrie, der Maschinenbau und die Fördertechnologien für Öl und Gas kommen allmählich in Schwung. Die Importsubstitution ist aber ein langfristig angelegter Prozess. Für endgültige Ergebnisse ist es noch zu früh.
Gibt es Beispiele für russisch-amerikanische und russisch-europäische Kooperationsprojekte, die trotz aller Schwierigkeiten umgesetzt wurden?
Es gab einiges an Verunsicherung und zahlreiche Risiken, dennoch trat die Wirtschaft nicht auf der Stelle. Im September 2015 haben Gazprom und fünf weitere europäische Unternehmen die Gründung des Joint Ventures „New European Pipeline“ vertraglich vereinbart. Das Unternehmen wird die Umsetzung des Nord Streams vorantreiben – dabei geht es um zehn Milliarden Euro. Im August gab die finnische Regierung grünes Licht für eine Baugenehmigung des Kernkraftwerks Hanhikivi-1 im Westen Finnlands, an dem der russische Konzern Rosatom beteiligt ist. Dann sind da noch das russisch-amerikanische Projekt zur Herstellung leichter Hubschrauber vom Typ Bell 407 GXP in Jekaterinburg, der Bau einer neuen Fabrik für Elektrotechnik in Samara mit Beteiligung der französischen Firma Schneider Electric, das Pharmawerk der britischen Astra Zeneca in der Region Kaluga und eine Reihe weiterer Vorhaben.
Womit können internationale Unternehmen in diesem Jahr in Russland rechnen?
Die Rubelabwertung führt zu einer deutlich höheren Wettbewerbsfähigkeit der in Russland hergestellten Produkte: Die Arbeitskosten sinken, die Kosten für Rohstoffe, Material und Energie auch. Investitionen in die Produktion lassen sich so wesentlich schneller wieder einfahren. Internationalen Unternehmen wird es durch den Ausbau der Kapazitäten im russischen Realsektor möglich, vom russischen Binnenmarkt aus für das Ausland zu produzieren. Es gibt bereits Beispiele: Die europäischen Reifengiganten Nokian und Pirelli haben beachtliche Kapazitäten in Russland aufgebaut. Das, was sie in Russland herstellen, wird in Europa erfolgreich vermarktet.
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