„Vor 30 Jahren wäre ein Komitee unter Vorsitz eines Politbüromitglieds organisiert worden und die lokalen Parteizellen hätten Anweisungen erhalten, wie man sich Notizen über die Werke der Gründer des Marxismus machen sollte. Zu diesem Datum wären Filme gedreht, Radioprogramme aufgenommen worden ...“ So würde sich der ehemalige russische Kulturminister Michail Schwydkoj den Geburtstag von Karl Marx vorstellen (rus), wenn Gorbatschows Perestroika und die damit verbundenen politischen Ereignisse nicht in Russland stattgefunden hätten.
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„Marx würde sich im Grab umdrehen“
„Nun ist alles anders“, sagt er und es fällt schwer, dem ehemaligen Minister zu widersprechen, denn das diesjährige Programm zum Marx-Jubiläum sieht bescheiden aus. Es wird lediglich eine Ausstellung in einem der Moskauer Museen, ein paar Konferenzen und einige Aktivitäten an der Universität von Kasan geben. Dort veranstalten die Studenten das „Marxfest“ mit einem Rapduell und einem Projekt, das den Namen „Finde das Kapital von Marx“ trägt und auf den Titel von Marx’ Hauptwerk anspielt.
Es scheint nicht viel Aufhebens um den Philosophen zu geben, nach dem in fast jeder Stadt eine Straße benannt ist und dessen Namen sogar eine Stadt an der Wolga etwa 800 Kilometer von Moskau entfernt trägt. Darüber hinaus neigen einige Leute im Ausland immer noch dazu, Russland mit Karl Marx zu assoziieren, obwohl der schmerzhafte Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus bereits vor 30 Jahren erfolgt ist. Zumindest scheint das bei der britischen Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Karen Pierce, der Fall zu sein. In ihren Äußerungen (eng) während der jüngsten Anhörungen des Sicherheitsrats zum Thema Syrien sagte sie über den deutschen Philosophen: „Ich glaube, dass er sich im Grab umdrehen würde, wenn er sähe, was das Land, das auf vielen seiner Grundsätze basiert, im Namen der Unterstützung Syriens tut.“
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Marx auf vier Elefanten
Man könnte argumentieren, es sei nicht verwunderlich, dass einige Leute 30 Jahre der jüngsten russischen Geschichte übersehen, wie Peirce es tat. Schließlich war Karl Marx in der Sowjetunion seit der bolschewistischen Revolution von 1917 im ganzen Land allgegenwärtig.
Unmittelbar nach der Revolution stellte Wladimir Lenin seinen Plan der „Monumentalpropaganda“ vor. Er errichtete zu Ehren der größten Revolutionäre und Gesellschaftsdenker mehrere Denkmäler – allen voran die für die größten Persönlichkeiten der Revolution, Karl Marx und Friedrich Engels.
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Das erste Denkmal aus Gips wurde zum ersten Jahrestag der Revolution im November 1918 fertiggestellt und vor dem Smolnyj-Palast in Petrograd (heute Sankt Petersburg) platziert, wo sich während der Oktoberrevolution das bolschewistische Hauptquartier befand. Es war das weltweit erste Denkmal für Karl Marx.
Ein anderes Marx-Denkmal in Simbirsk, der heutigen Stadt Uljanowsk, in der Lenin zur Welt kam, wurde anders konzipiert. Hier wurde Marx in schwarzen Marmor gemeißelt und sieht nach Meinung der Einwohner wie Prometheus aus, der sich von seinen Fesseln befreite und anderen die Freiheit brachte. Auf der Rückseite des Denkmals findet man Marx’ berühmtes Zitat: „Die Ideen, die von den Massen aufgegriffen werden, werden zur größten treibenden Kraft.“
Es gab auch einige andere amüsante Vorschläge von Künstlern, die die Revolution unterstützten und ihren Idealen auf futuristische und modernistische Weise dienen wollten, für die bildliche Darstellung von Marx. Dazu gehörte die Idee, Marx in Form einer „dynamischen Anordnung von Würfeln“ darzustellen oder den deutschen Philosophen auf vier Elefanten zu stellen.
Witze über Marx
Höchstwahrscheinlich wurde das berühmteste sowjetische Marx-Denkmal, das im Zentrum von Moskau in der Nähe des Roten Platzes steht, erst im Jahre 1961 errichtet. Und obwohl seine Erschaffer dafür den Lenin-Preis erhielten, verspotteten viele Moskauer das Denkmal als „Kühlschrank mit Bart“.
Marx’ Bart scheint für viele Menschen in der UdSSR sein markantestes Merkmal gewesen sein. Darüber gab es sogar einen berühmten Witz: In Russland lebte ein Straßenreiniger, der Karl Marx unglaublich ähnlich sah. Seine Vorgesetzten fühlten sich äußerst unwohl dabei, den großen Philosophen die Straßen mit einem Besen kehren zu lassen und ihn zu veranlassen, sich den Bart abzurasieren. „Natürlich kann ich meinen Bart abrasieren, aber was passiert dann mit meinem klugen, hellen Verstand?“, erwiderte Marx’ Doppelgänger.
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Der Marxismus ist unpopulär
Die Mehrheit der heutigen Russen scheint Marx und dem Marxismus gegenüber recht gleichgültig eingestellt zu sein und zählt ihn nicht zu einem der Gründer des modernen Russlands. Eine vor etwa zehn Jahren durchgeführte gesamtrussische Umfrage (rus) zeigte, dass die Mehrheit zwar den Namen Marx kannte, fast 70 Prozent der Befragten jedoch sagten, dass seine Lehren ihnen egal seien.
Laut Schwydkoj (rus) fiel die Umfrage vor allem deshalb so aus, weil die Russen die Ereignisse der bolschewistischen Revolution und die Sowjetzeit immer noch nicht richtig einschätzen und somit auch nicht entscheiden können, welchen Standpunkt sie dazu haben.