Bis heute gibt es in der russischen Gesellschaft keinen eindeutigen Konsens darüber, was die Revolutionen von 1917 für Russland und die Welt bedeuteten. Zum hundertsten Jubiläum der Revolution vor fast zwei Jahren wurde das Thema in den Massenmedien ausgiebig diskutiert.
Fakt ist, dass die Revolution nicht nur die politische, sondern auch die künstlerische Ordnung des Landes veränderte. Für viele Jahre wurden die Utopien der Avantgarde Realität. Die Verfügbarkeit von Bildung, aber auch von Ausstellungen und Museen wuchs auf ein bisher unbekanntes Niveau. Auch viele westliche Künstler waren von den Ereignissen in Russland erstaunt und sympathisierten teilweise mit den revolutionären Ideen.
Die Reformen durchdrangen alle Ebenen der Gesellschaft. Akademischer Kunstunterricht wurde kostenlos, die ehemalige Akademie der Künste in Sankt Petersburg wurde in „Freie Staatliche Kunstwerkstätten“ umbenannt und Künstler stellten ihre Werke direkt auf der Straße aus. Jeder, der vorbeiging, konnte an den Seminaren teilnehmen.
In Witebsk gründete Kasimir Malewitsch die Universität der Neuen Künste, die eine ganze Generation suprematistischer Künstler prägte. Die Idee der Autorenschaft wurde komplett aufgegeben, die Studenten und Meister Malewitsch selbst signierten ihre Bilder nicht mehr. All das geschah in den 20er-Jahren.
Linksgerichtete Künstler begannen, aktiv mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Malewitsch, Kandinski, Tatlin und Rodtschenko arbeiteten im Büro für Bildende Künste des Bildungsministeriums. Der Staat hatte die Avantgarde als neue Sprache der Revolution auserkoren. Sie unterschied sich massiv von der traditionellen, als „bourgeois“ wahrgenommenen Kunst. Die Feiern zum ersten Jubiläum der Revolution wurde von Nathan Altman geplant, der die Eremitage mit rotem Kattun verdeckte und die Alexandrinski-Säule mit suprematistischen Formen dekorierte.
Kunstinstitute wurden gegründet, um eine Theorie der neuen Kunst zu entwickeln. Das Büro für Bildende Künste im Bildungsministerium schlug vor, alle avantgardistischen Künstler in der Kommunistischen Internationale zu vereinigen. 1921 erklärte das Institut für Kunstkultur die Malerei zu einer bourgeoisen Kunstform. Von da an mussten Künstler ihre Fähigkeiten einsetzen, um funktionelle Dinge zu kreieren.
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Verbindungen ins Ausland
Der weltweite Einfluss der Oktoberrevolution zeigte sich auch in Westeuropa und sogar in Lateinamerika. Auch hier übernahm die Kunstwelt revolutionäre Ideen. Im selben Jahr, in dem in Russland zunächst der Zar gestürzt und später der Kommunismus ausgerufen wurde, kämpften die Mexikaner um eine demokratische Verfassung und um eine Sozialisierung des Grundbesitzes. Die Künstler David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco kämpften in Mexiko selbst auf Seiten der Revolutionäre und betrachteten die Ereignisse in Russland mit großer Sympathie. Die Mexikaner entwickelten eine neue “Volkskunst”, die von sozialistischen Ideen beeinflusst war. „Alles, was wir in der Kunst erschufen, ist substanziell. Es ist sehr wichtig, aber es ist erst der Beginn auf dem Weg zum Glück der Menschheit, den Lenin mit der großen Oktoberrevolution ebnete“, schrieb Siqueiros in seiner Autobiographie.
Diego Rivera arbeitete von 1927 bis 1928 in der Sowjetunion. Dort war er Mitbegründer der Oktobervereinigung und arbeitete mit den Malern Alexander Deineka und Dmitri Moor, den Architekten Leonid, Wiktor und Alexander Wesnin sowie dem Regisseur Sergej Eisenstein zusammen.
Zurück in Mexiko begann Rivera mit seinem Lebenswerk: dem Wandgemälde zur mexikanischen Geschichte am Palacio Nacional in Mexiko-Stadt. Eine weitere Liebeserklärung Riveras zur Russischen Revolution fand sich am Rockefeller Center in New York, wo er den von Arbeitern umringten Lenin an die Wand eines Gebäudes malte. Der Kunde lies das Gemälde kurz darauf zerstören.
Auch die französischen Surrealisten verfolgten linksgerichtete politische Ideen. Sie schlugen jedoch vor, die Revolution zunächst im eigenen Bewusstsein zu beginnen. Ihrer Meinung nach war die Kunst das wichtigste Instrument des Umsturzes. Dennoch bewunderten sie die Idee einer Weltrevolution. „Wir ließen uns vom Triumph der russischen Revolution betören. In der Errichtung eines Arbeiterstaates sahen wir eine große Chance“, schrieb André Breton 1952. Die Surrealisten verfassten die Erklärung „Zuerst und für immer die Revolution“, in der sie einen radikalen gesellschaftlichen Wandel forderten. Im Januar 1927 traten fünf von ihnen, Breton, Aragon, Eluard, Unik und Péret in die kommunistische Partei ein.
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Der Einfluss des Bauhauses
Das Deutsche Bauhaus, dessen Lehrer ebenfalls oft zu linksextremen politischen Ansichten tendierten, begrüßte die angebliche Gesellschaft der Gleichheit ebenfalls. Mit Wassili Kandinski und El Lissitzki, die 1921 aus Russland auswanderten, kamen neue Ideen. Kandinski leitete Kurse in Malerei und Fresco-Kunst, Lissitzki versuchte, Malewitschs suprematistische Werke in Deutschland bekannt zu machen.
Wie ihre Kollegen in der Moskauer Wchutemas-Schule für Kunst und Technik, glaubten die Künstler und Architekten des Bauhauses daran, dass die neue Kunst dabei helfen würde, eine glücklichere Zukunft für die Menschheit zu ermöglichen. Diese Ideen führten zu einem großen Interesse an standardisiertem Wohnungsbau für die Massen. Hannes Meyer, der zweite Direktor des Bauhauses, reiste mit seinen Studenten nach Moskau. Dort leitete er eine Architekturfirma, die Generalpläne für neue Städte erschuf. Meyer nannte die dort entwickelten Theorien „Neue Bauhauslehre“. Der Funktionalität und Organisation des urbanen Raumes wurde Vorrang gegeben. In standardisierten Stadtvierteln wurde vorher geplant, wo die Leute leben, lernen oder ihre Freizeit verbringen würden.
Die Stadt Birobidschan wurde teilweise nach Meyers Vorstellungen gebaut. Mit der zunehmend angespannten Atmosphäre der stalinistischen 1930er wurde es für Meyer und seine Kollegen immer schwieriger, in der Sowjetunion zu arbeiten. 1937 verließ er das Land. Seine Ideen wurden jedoch auch noch viel später als beispielhaftes Konzept für zeitgemäße Städte angesehen und beeinflussten europaweit den Wohnungsbau der Nachkriegszeit.
Auch die Surrealisten waren von der zunehmend totalitären Realität des Sowjetstaates desillusioniert. Zweifel an den Werten der Revolution waren bereits nach der Exilierung Trotzkis laut geworden. Nach einem Streit mit der Kommunistischen Partei Frankreichs, verließ Breton die Reihen der Kommunisten im Jahre 1933 und nahm in Mexiko Kontakt mit Trotzki und Rivera auf. Sie verfassten das Manifest für unabhängige revolutionäre Kunst, in dem sie sich für grenzenlose geistige Freiheit aussprachen. Breton sagte später, die Revolution sollte nicht zu einer Gesellschaft führen, in der „wie in Russland alle Menschen gleich versklavt sind.“