Yvonne, Hong Kong-Kanadierin: Wie Russen mein Leben veränderten

Aus dem persönlichen Archiv
Es war eine spontane Reise nach Wladiwostok im Jahr 2017, die zu einer herzlichen Verbundenheit mit Russland und engen Freundschaften zu Russen geführt hat. Ich wurde durch diese Reise inspiriert, alle Übergänge entlang der 4 000 Kilometer langen Grenze zwischen Russland und China einmal zu überqueren.

Wladiwostok - eine ostrussische Stadt, die näher an den Hauptstädten Ostasiens liegt als an der russischen Hauptstadt Moskau. Wladiwostok – meine erste richtige Begegnung mit Russland. Ich erinnerte mich an den Geschichtsunterricht in der High School, wo es um den Kalten Krieg ging, und an die Polaroids meines Vaters, die er in den 1990er Jahren aufgenommen hat, als die Stadt erstmals wieder allen offenstand. 

In den ersten Stunden wirkte die Stadt auf mich wie eine Karikatur Russlands. Sicherheitsgurte in Fahrzeugen konnte man anlegen, wie man wollte, oder es gab sie erst gar nicht. Im Hostel gab es Sandpapier als Toilettenpapier. Als wir in einer Ecke rauchten, kam ein tätowiertes und gepierctes Mädchen auf uns zu. Mein Freund aus Singapur wurde nervös, doch sie bot uns bloß Wassermelone an und zeigte uns ihr „Hello Kitty”-Tattoo. 

Nach meinem ersten Aufenthalt in Wladiwostok habe ich angefangen, Russisch zu lernen und habe viele Städte, traditionelle Dörfer und Grenzstädte in Russlands Fernem Osten besucht, um den Reichtum des Landes an Geschichte und Landschaften und seine Vielfalt zu entdecken. 

Diese erste Erfahrung in Wladiwostok scheint eine passende Analogie für Russland zu sein. Vielleicht nehmen einige Leute Russland als etwas rau an den Rändern wahr, aber wenn man genauer hinschaut, offenbart sich der großzügige und humorvolle Charakter der Russen, die die einfachen Dinge des Lebens zu schätzen wissen, etwa eine nette Bekanntschaft.

Eine Tasse Tee und eine helfende Hand 

In Russland gibt es immer jemanden, der Ihnen eine Tasse Tee, eine Zigarette oder seine Hilfe anbieten wird. Wenn Sie sich in ein Dorf am Baikal verirren sollten, werden Ihnen alle Dorfbewohner helfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen, auch die Älteren, die kein Englisch sprechen.

Mich brachte eine Gruppe Teenager ans Ziel. Sie trugen meinen großen Rucksack und bauten für mich aus Steinen und Stöcken eine Art Brücke über den Fluss, damit meine Schuhe nicht nass würden.

Auf der Insel Olchon wohnte ich in der Datscha eines neuen Freundes, den ich erst einen Tag zuvor kennengelernt hatte. Ich schlief im Bett, während meine Gastgeber auf dem Boden schliefen. Ich bekam Essen, warme Kleidung und natürlich gab es russisches Karaoke. 

Bei zahllosen Gelegenheiten begleiteten mich Fremde und neue Bekannte und zeigten mir ihre Stadt. Ich saß in vielen russischen Küchen und führte gute Gespräche bei einer Tasse Tee. Die Russen brauchen nicht viel, um sich zu freuen: Zeit mit Freunden und der Familie verbringen zu können empfinden sie als Freude. Die russische Gastfreundschaft hat auch mich zu einer besseren Gastgeberin und einer besseren Freundin gemacht. 

Diese Russen! 

Die Menschen in Russland sind außergewöhnlich offen, wenn es darum geht, ihre Zeit und Geschichten zu teilen. Ein Universitätsstudent aus dem Dorf Ogodscha (unter 400 Einwohner) träumte zum Beispiel davon, die Welt zu sehen und brachte sich selbst Englisch bei. Er hat mehrere Teilzeitjobs, um Geld für die Verwirklichung seines Traums zu verdienen und durfte schon an Austauschprogrammen unter anderem in den USA und Japan teilnehmen.  

Ein ehemaliger Don Kosake präsentierte stolz seine Uniform und Medaillen und erzählte, wie er während der Sowjetzeit die Städte und die Industrie aus dem nichts mit aufzubauen half.

Oft erfuhr ich diese Geschichten bei frisch gezapftem Birkensaft. Zum Beispiel die der jungen Familie, die als Selbstversorger in einem Dorf in der Amur-Region lebt, dort ein Haus baut, Vieh hält und Getreide anbaut. Sie will so natürlich wie möglich leben. 

Die Menschen in Russland haben immer Zeit für ein gutes Gespräch. Diese Unterhaltungen oder auch Diskussionen sind ehrlich und authentisch, denn das schätzen die Russen. Man kann mit Menschen sprechen, die unterschiedliche politische und soziale Ansichten haben und dennoch befreundet bleiben. Zwar herrscht noch immer das Vorurteil vom ernsten, niemals lächelnden Russen, doch die Russen haben einen guten Sinn für Humor, vor allem wenn es um Politik und das Leben geht. 

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Liebe Grüße aus Russland 

Viele Russen sind froh, dass im Land 2018 die Fußball-Weltmeisterschaft ausgerichtet wurde. Das gab ihnen die Gelegenheit, den Gästen aus aller Welt ihre Gastfreundschaft zu zeigen und die russischen Werte, auf die sie stolz sind. Zwar werden die Russen immer die ersten sein, die über „Wodka, Bären und Balalaika” ihre Witze machen werden, doch das Land hat viel mehr zu bieten

Vielleicht treffen Sie auf Vertreter der älteren Generation, die Einblicke in das komplizierte historische Erbe Russlands geben können oder auf junge Menschen, die gebildet sind und die Welt entdecken wollen.

In einem Land, das sich von Europa bis nach Asien erstreckt, begegnen Sie einer Vielfalt von Landschaften und Menschen: indigenen Kulturen in Burjatien und Jakutien, der islamischen Kultur in den Regionen Baschkortostan und Tatarstan; Udmurtien, Tschuwaschien und so vieles mehr. 

Vielleicht werden Sie feststellen, dass Russland ein romantisches Land ist, das Liebe und Literatur liebt. Meine Erfahrungen in Russland haben mir bei der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Identität, und der Suche nach Zugehörigkeit und meinem Platz in der Welt sehr geholfen.

Diese intensive Beschäftigung mit dem Land hat zum unparteiischen und unpolitischen Projekt „Briefe aus Russland” geführt, in denen das zeitgenössische Leben in Russland in Briefform dargestellt wird. 

Wir vergessen oft, dass der moderne, postsowjetische russische Staat noch keine 30 Jahre alt ist. Russland ist nicht ohne Herausforderungen und hat ein schwieriges Erbe. Die menschlichen Wünsche und alltäglichen Kämpfe sind jedoch überall auf der Welt ähnlich. 

Natürlich wird ein kurzer Artikel im Internet Russland und dem nationalen Charakter der Russen nicht gerecht, doch ich möchte meine persönlichen Erfahrungen mit der Menschlichkeit und Großzügigkeit dort teilen, die mir geholfen haben, ein offeneres und fröhlicheres Leben zu führen und mich mehr an den kleinen Dingen zu erfreuen. 

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