Nicolás aus Argentinien: Wie Russen mein Leben veränderten

Aus dem persönlichen Archiv
Zwei Monate in Russland haben gereicht. Nun trägt der 26-jährige Argentinier zu Hause Pantoffeln und kann sich ein Leben ohne Blini und Buchweizen nicht mehr vorstellen.

Ich habe mich schon immer für Weltpolitik und andere Kulturen interessiert. In meinem Studium der Internationalen Beziehungen wählte ich Russland als Schwerpunkt. Die Tatsache, dass dort mehr als 190 Nationalitäten leben, beeindruckte mich sehr und ich versuchte durch Bücher, Karten, Musik und sowjetische Filme mehr über dieses Land herauszufinden. 

Dann passierte etwas Unvorhersehbares. Auf einer Sprachlernseite lernte ich ein russisches Mädchen namens Julia kennen. Was mit einem höflichen Austausch über Russisch lernen begann, entwickelte sich zu täglichen stundenlangen Unterhaltungen. So habe ich mich ganz nebenbei verliebt und hatte nun mit den Herausforderungen einer Fernbeziehung zu kämpfen. 

„Uns wurde gesagt, es sei Zeitverschwendung"

Wir haben jeden Tag stundenlang über alles Mögliche geredet. Sie machte sich mehr Gedanken über Tolstois Werke als über die nächste Party. Nach all den Gesprächen wurde mir klar, dass auch ich das Nachtleben nicht so sehr mochte und lieber zu Hause blieb, um mit ihr zu sprechen, russische Literatur zu lesen oder Russisch zu lernen. Von ihr habe ich viel über das russische Volk gelernt, über die Bedeutung von Religion und Traditionen wie das Neujahrsfest. Es ist ganz anders als in Argentinien. 

Wir haben zwei schwierige Jahre damit verbracht, mit der Entfernung und dem Zeitunterschied von sechs Stunden zurecht zu kommen. Die Leute sagten mir, es sei Zeitverschwendung und es gäbe viele andere Hindernisse, die wir überwinden müssten, um weiterhin so viel Geduld zu haben und an unsere Beziehung zu glauben. Wir hatten sogar mit logistischen Problemen zu kämpfen, wie zum Beispiel, dass viele unserer Pakete und Briefe, die wir uns gegenseitig schickten, mehr als drei Monate brauchten, um anzukommen.

Mit Hilfe von WhatsApp, Skype und zahllosen Videoanrufen haben wir versucht, die Distanz zwischen uns zu verringern. Nach vielen Anstrengungen und mit der Unterstützung der Familie, konnte ich mir schließlich endlich das Ticket ins Land meiner Träume kaufen. 

Bevor ich nach Russland gekommen bin, habe ich versucht, die gängigen Vorurteile zu ignorieren, doch tief im Inneren war ich dennoch ein wenig voreingenommen. Ich fürchtete, die Russen seien sehr verschlossen und es gäbe kaum ausländische Marken im Land.  

Als ich aus dem Flugzeug stieg, war alles so seltsam ... Und mein ganzer Körper schmerzte, vielleicht wegen der nervlichen Anspannung. Doch schon kurz danach wurde ich angenehm enttäuscht und Russland erwies sich auf seine Weise als einzigartig. 

Durchgefüttert von der Babuschka 

Auf den ersten Blick scheinen die Russen nicht so offen für Fremde wie die Argentinier. Die Russen führen auch keinen Smalltalk. Sie fragen nicht einfach: „Wie geht es Ihnen?“ Sie sprechen immer Klartext. 

Sobald sie dich näher kennengelernt haben, wirst du ein Mitglied der Familie. Julia nahm mich mit zu ihren Verwandten nach Roschal, einer Kleinstadt in der Region um Moskau. Die Menschen, die ich kennengelernt habe, waren sehr gastfreundlich. Sie haben mir ihr zu Hause wirklich geöffnet. 

Ich bin ehrlich: Ich habe einige russische Angewohnheiten übernommen, die ich zunächst seltsam fand. In Argentinien essen wir häufig erst zwischen 21 und 23 Uhr zu Abend, während es in Russland eine feste Zeit dafür gibt, meist 18 Uhr. Das hielt ich immer für zu früh.

Von den vielen Klischees, die ich über Russland gelesen habe, ist nur eines wahr: Babuschkas, russische Großmütter, werden dich den ganzen Tag mit Essen vollstopfen: „Jesch, jesch, jesch!" (zu Deutsch: Iss, iss, iss!) sagte Julias Babuschka jeden Tag zu mir. Und natürlich habe ich gegessen, was hätte ich auch dagegen sagen können? Ich probierte alles: Borschtsch und Schtschi, Frikadellen und Pelmeni. Alles sah köstlich aus und schmeckte auch so. 

Ich habe mir auch angewöhnt, beim Betreten der Wohnung die Straßenschuhe auszuziehen und die Kleidung zu wechseln.

Ich bewundere, welch großen Respekt sie den Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges entgegenbringen. In jedem Ort, von Moskau bis Karelien, ganz gleich wie klein der Ort ist, gibt es ein Kriegsdenkmal. Die Erinnerung ist allgegenwärtig und wird so für immer aufrechterhalten. 

Wir wollen nun sparen, um beim nächsten Mal bis nach Sibirien reisen zu können. Der Winter schreckt mich nicht ab. Ich mag Hitze nicht. Ich bin zwar Argentinier, aber das ist nicht mein Wetter! 

Nach zwei Monaten in Russland musste ich nach Argentinien zurückkehren und Julia begleitete mich für ein paar Monate. Übrigens trage ich jetzt Tapotschki (Pantoffeln) in meiner Wohnung. Und ich esse früh zu Abend, und zwar traditionelle Gerichte wie Blini. Und ja, ich liebe Buchweizen. In Argentinien ist er sehr teuer, daher haben wir ein paar Vorräte aus Russland mitgebracht – sehr viel Buchweizen. 

Nun suche ich einen Job in Russland, denn nur dort wollen wir leben.

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