Kirchen auf der „Kuhweide“: Dramatische Sakralbau-Kunst in Jaroslawl

William Brumfield
Dieses Gotteshausensemble in der Goldener-Ring-Stadt Jaroslawl trägt zwar einen bäuerlichen Namen, ist aber ein wahres Meisterwerk der russischen Ziegelbaukunst.
1911

Jaroslawl ist eine der historisch reichsten Gegenden Russlands. Die Goldene-Ring-Stadt liegt etwa 200 Kilometer nordöstlich von Moskau an der Wolga und ist heute ein Industriezentrum mit rund 650.000 Einwohnern. Aber bereits im Mittelalter war Jaroslawl eine der größten Städte der Alten Rus und vor allem ein religiöses Zentrum. Die Stadt hatte ihre eigene Ikonenmalerei-Schule und vom 16. bis ins 19. Jahrhundert die größte Kirchen- und Kirchenkunstdichte im Land.

Zwei Kirchen auf der Weide

1997

In Korowniki, einem am Stadtrand gelegenen Viertel Jaroslawls an der Mündung des kleinen Flusses Kotorosl in die Wolga, demonstrierten die lokalen Kirchenbaumeister ihr ganzes Können. Seinen Namen erhielt der Stadtteil von dem russischen Wort „korowa“ – „Kuh“. Er bedeutet  wörtlich Kuhweide. Die Anwohner waren traditionell Töpfer oder Maurer, was ebenfalls bei der Dekoration des hiesigen Kirchenensembles aus zwei Gotteshäusern und einem freistehenden Glockenturm berücksichtigt wurde.

1911

Im Zentrum steht die Kirche des Heiligen Johannes Chrysostomos, in Auftrag gegeben von den Kaufleuten Iwan und Fjodor Neschdanow, die später auch in der Südgalerie der Kirche beerdigt werden sollten. Errichtet in den Jahren 1649 bis 1654, wurde die Kirche jedoch schon 1680 teilweise renoviert. So kam es, dass gleich zwei Architekturstile das Antlitz des Gotteshauses prägen. Mit ihren zahlreichen Einzelelementen konkurriert die Chrysostomos-Kirche nur noch mit der ebenfalls in Jaroslawl errichteten Toltschkowo-Kirche.

1997

Schon im Erdgeschoss der Kirche beginnt die harmonische Symmetrie der Konstruktion: An das Mittelschiff schließen sich in allen Himmelsrichtungen gleichförmige Galerien an. Bei der Sanierung wurde außerdem eine dekorative Veranda mit einem Steildach am Eingang zu jeder einzelnen Galerie angebracht.

2017

Aus der Ferne wirken die hohen Türme in der Mitte mit den Spitzdächern an den Eingängen rund herum fast wie eine Pyramide, die jedoch in zylindrischen „Rohren“ mit Zwiebelkuppeln enden. Dass die Kronen teils sogar höher sind als ihre Untersätze, ist ein typisches Merkmal für den Jaroslawler Kirchenbaustil und macht diese Gotteshäuser einmalig in der Welt.

Geistliches und Künstlerisches

1911

Die Korowniki-Bauten sind ein ausgezeichnetes Beispiel für die aufwändige Verwendung polychromer Keramikelemente an den Außenwänden, die den Wohlstand und Geschmack der Gemeinde symbolisieren sollten.

2017

Da die Kirchen über Jahrhunderte nur von der Wolga aus erreicht werden konnten, wurde vor allem die dorthin ausgerichtete Ostseite besonders festlich ausgestaltet.

Die Zweite im Bunde

1997

Die zweite Kirche wurde 1669 errichtet und der Ikone der Gottesmutter von Wladimir gewidmet. In ihrer bescheideneren Gestaltung fügt sie sich unauffällig in das bereits bestehende Ensemble ein. Da sie besonders zur Durchführung von Gottesdiensten im Winter gedacht war, erhielt sie zusätzlich eine dicke gewölbte Decke zwischen dem ersten und zweiten Geschoss, um die Wärme besser zu erhalten.

1997

Zwischen den beiden Kirchen befindet sich ein Glockenturm mit einer hohen Spitze und drei Klangfenstern auf achteckiger Grundfläche aus dem Jahr 1670. Dank seinen beachtlichen 37 Metern Höhe und dem schmalen Bau erhielt er im Volksmund den Namen „Jaroslawler Kerze“. Das umfangreiche Glockenspiel war später ein Geschenk der Demidow-Fabriken im Ural.

2017

Die Ostseite des Ensembles schmückt eine lange Ziegelmauer mit einem beeindruckenden “Heiligen Tor” mit Blick in Richtung Wolga. Das Tor spielt eine wichtige Rolle in der Gestaltung des gesamten Kirchenbauensembles.

2017

Zuletzt wurden die Korowniki-Kirchen einer Gemeinde Altgläubiger übergeben, die bereits Gottesdienste feiern, während die Restaurationsarbeiten ständig andauern. Zutritt zu den Kirchen kann man durch vorherige Absprache mit dem zuständigen Priester erhalten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der russische Chemiker und Fotograf Sergej Prokudin-Gorski ein aufwändiges Verfahren für die Farbfotografie. Seine Vision der Fotografie als eine Form von Bildung und Aufklärung zeigt sich besonders in seinen Fotografien der mittelalterlichen Architektur historischer Siedlungen wie Suzdal und Wladimir. Zwischen 1903 und 1916 reiste er durch das Russische Imperium und schoss mit seiner neuen Technik über 2000 Fotografien, die drei Aufnahmen auf einer Glasplatte beinhalten. Im August 1918 verließ er Russland mit seiner Kollektion von Glasnegativen und ging nach Frankreich. Nach seinem Tod im Jahr 1944 in Paris verkauften seine Erben diese Kollektion an die Kongressbibliothek. Im frühen 21. Jahrhundert digitalisierte die Bibliothek die Prokudin-Gorski-Kollektion und machte sie für die Öffentlichkeit frei zugänglich. Zahlreiche russische Webseiten führen nun Teile dieser Kollektion auf.

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