Drei Monate nach dem Super-GAU: Wie meine Mutter nach Tschernobyl reiste

Aus dem persönlichen Archiv; Walerij Solowjow/TASS
Meine Mutter war nicht die einzige Teilnehmerin dieser illegalen Reise. Sie wussten um das Strahlenrisiko, wischten aber alle Bedenken beiseite, die meisten wurden später krank. Mutter, Du hast mit Deinem Leben gespielt.

Olga Koslowa ist eine 57-jährige mittelgroße und sehr schlanke Frau mit blonden Haaren. Sie sitzt in einer kleinen Zweiraumwohnung an einem Holztisch, auf dem eine weiße Tischdecke liegt. Das ist meine Mutter. Von früh bis spät arbeitet sie bei einer Versicherung. Sie schaut gerne „Game of Thrones“. Die letzte Staffel hat sie noch nicht gesehen, doch sie weiß, wie sie ausgeht und ist verärgert. Ich soll eine neue Lieblingsserie für sie finden.

„Wie wäre es mit Chernobyl’?“, schlage ich ihr vor und rette den Käse vor unserem hyperaktiven weißen Husky, der auf den Namen Lucky hört. „Ich kenne Prypjat. Ich war dort nach dem Unfall“, sagt sie. „Was?“ entfährt es mir. „Das habe ich Dir schon erzählt. Du hörst einfach nicht zu.“

„Alles verstrahlt, alles gut“

Es ist August 1986. Meine Mutter steigt am Bahnhof von Melitopol aus dem Zug. Sie ist 24 Jahre alt und hat vor einigen Jahren ihren Abschluss als Ingenieurin am Institut für Telekommunikation und Informatik gemacht. Sie arbeitet für die Moskauer Telefongesellschaft.

In den Ferien fährt sie ans Asowsche Meer. Auf dem Bahnsteig trifft sie mehrere Paare mittleren Alters und solche, die kurz vor dem Ruhestand stehen. Ein großer blonder Junge mit Lockenkopf steht dort ebenso wie eine etwa 30jährige Frau mit kastanienbraunem Haar. „Sie hieß Ira. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden“, erzählt meine Mutter. Der Junge hieß Alexei. Er war gerade 18 Jahre alt und wollte Zahnarzt werden.

Ein großer, grauhaariger, gutaussehender Mann von ungefähr 50 Jahren bewegt sich auf die Gruppe zu. Es ist Ostap, der Reiseleiter. Was er sonst noch tut, hat meine Mutter damals nicht interessiert. „Er hat uns alle in einen kleinen Bus verfrachtet und ist mit uns in ein Dorf in der Nähe von Melitopol gefahren. Dort übernachteten wir in kleinen Holzhütten, die von Einheimischen vermietet wurden. Es waren drei Personen pro Hütte, es war sehr günstig und sehr gemütlich“, erzählt Mutter.  

„Die erste Woche der Reise war entspannt. Ostap hat Ausflüge mit uns gemacht, abends haben wir Wein getrunken und sind schwimmen gegangen“, fährt Mutter fort. An den Stränden standen Warnschilder, die besagten, dass Schwimmen zwischen 16 und 20 Uhr verboten sei. Sie fragte Ostap nach dem Grund. „Das liegt an der Strahlung, aber alles ist gut“, antwortete dieser lachend. „Ich war vorsichtig, aber nicht zu sehr“, sagt Mutter.

Sightseeing extrem

„Seid ihr bereit, Kinder? Ja, Kapitän!“ Mit einstimmiger kindlicher Freude stimmt die Gruppe ohne zu zögern Ostaps Vorschlag zu, „das einzigartige Tschernobyl" zu besuchen. Meine Mutter erzählt: „Klar, jeder wusste von dem Unfall. Aber ich war mir sicher, dass die Strahlung mir nichts anhaben könne. Für uns damals klang ‚Tschernobyl‘ irgendwie weit weg. Manchmal gehen Dinge eben kaputt.“

Die Fahrt nach Prypjat, die Stadt, die nur drei Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt liegt, dauerte lange, es waren 850 Kilometer mit dem Auto. Jener Tag im August 1986 war ein heißer Tag, das Thermometer kletterte auf über 30°C.  Die Gruppe war mit Weinflaschen bewaffnet. Meine Mutter erinnert sich daher kaum noch an die Hinfahrt. Lediglich die Schilder mit der Aufschrift „Kontaminiert“ sind ihr im Gedächtnis geblieben.

Ohne Schutzanzüge, nur in Sommerkleidung, machte die Gruppe halt in den Wäldern rund um Prypjat. Ostap hatte eine Weinflasche in der einen und einen Geigerzähler in der anderen. Rund zwei Stunden spazierte Mutters Gruppe durch den Wald und machte Fotos. „Die Bäume wirkten so frisch, obwohl es schon lange nicht mehr geregnet hatte“, sagt Mutter.

In der Ferne waren die Dächer verlassener Gebäude zu sehen, sonst nichts. Einmal landete eine Fliege auf Mutters Hand, halb so groß wie diese. Ostap machte Witze: „Wundert euch nicht, wenn ihr hier auf Mutanten trefft.“ Alle lachten und suchten daraufhin nach mutierten Insekten, wurden aber nicht fündig. Schließlich wollte die Gruppe weiter, in die Stadt. Doch nach einem Blick auf den Geigerzähler schickte Ostap seine Leute plötzlich zurück in den Bus und erklärte den Ausflug für beendet.  Es gab nur eine kurze Raucherpause und ein Erinnerungsfoto und weiter ging es mit dem Bus.

Die Folgen

Ein paar Monate später, zurück in Moskau, verspürte meine Mutter unerträgliche Schmerzen in ihrem Unterleib. Sie erfuhr, dass es Alexei genauso ging. Ira klagte über Schwindel und Schwäche. Auch andere Mitglieder der Reisegruppe hatten Beschwerden. Mutter erinnert sich nicht mehr an ihre Ratschläge und ihre Namen. Nach zehn Tagen bekam Mutter eine Diagnose. Zuerst ging man von einer Blinddarmentzündung aus, erinnert sie sich, denn unter der litt zum Beispiel Alexei wirklich zu diesem Zeitpunkt. Er begab sich in ein Krankenhaus.

Ira hatte eine zu hohe Leukozytenzahl und bekam Bluttransfusionen. Alle drei wurden zum Glück wieder gesund. Bei Mutter dauerte es jedoch drei Monate. Wie es den anderen Teilnehmern der Tour ergangen ist, weiß sie nicht.  Sie erinnert sich nicht mehr an deren Namen.

„Stell Dir vor, man riet mir schwanger zu werden. Das sei eine gute Methode, den Ausbruch der Krankheit zu verhindern“, erzählte sie mir. „Hast Du den Ärzten denn nicht gesagt, dass Du kurz zuvor in Tschernobyl warst?“, fragte ich irritiert und zugleich erleichtert darüber, zehn Jahre später geboren worden zu sein. „Nein, warum? Es war nur ein gewöhnlicher Ausflug, aber Du hörst mir ja nie zu. Nur meine Eltern waren sauer, als sie von der Reise erfuhren.“   

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