Wer von Ihnen Russisch lernt oder gelernt hat, hat sicher schon einmal von dem wichtigsten aller russischer Wörterbücher gehört: vom "Bedeutungswörterbuch der lebendigen großrussischen Sprache" von Wladimir Dal. Es war damals, Ende des 19. Jahrhunderts, das erste und ist bis heute das einzige russische Wörterbuch, das sowohl die russische Hochsprache („Literatursprache“) als auch verschiedene Regio- und Dialekte beinhaltet und erläutert.
Mit Worten keinen Schabernack treiben
Insgesamt hat Dal darin rund 200.000 Wörter gesammelt, davon über die Hälfte aus der „Literatursprache“. Mehr als 80.000 Begriffe, vor allem aus den Dialekten, hat er auf Reisen in die russischen Regionen zusammengetragen. Besonders seine Sammlung der Redewendungen und deren teilweise Integration in das Wörterbuch sind bis heute eine wichtige Quelle für Dialektologen. Im Vorwort zu seiner Wörtersammlung beschreibt er die Motivation für sein jahrelanges und aufwändiges Hobby:
„Die Zeit ist gekommen, da man die Volkssprache wertschätzen und aus ihr eine Bildungssprache erarbeiten muss. (…) Mit der Sprache, mit dem menschlichen Wort, mit der Sprache darf ungestraft nicht gescherzt werden; die wörtliche Rede des Menschen ist die sichtbare, greifbare, verbindende Einheit von Körper und Geist: Ohne Worte gibt es kein bewusstes Denken, sondern nur ein einziges Gefühl und ‚Muh‘.“
Aber die umfassende Wort- und Sprachsammlung Dals war letztlich nur das „Sahnehäubchen“ eines bewegten Lebensweges. Denn Dal war keineswegs Sprachwissenschaftler, vielmehr war das Interesse für die eigene Muttersprache, das Leben und die russischen Traditionen in ihren regional unterschiedlichen Formen sein Hobby.
Der Mensch hinter den Wörtern
Wladimir Dal wird am 10. November 1801 (heute 22. November) in Lugan im damaligen Kleinrussland – so hieß damals der nördliche Teil der Ukraine des Russischen Kaiserreichs – in einer Arztfamilie geboren. Dals Vater stammte aus Dänemark, hatte in Deutschland Theologie und Fremdsprachen studiert, kam aber später als Arzt ins zaristische Russland.
Dals Mutter Maria Freitag war Deutsche und beherrschte, so überliefern die Quellen, fünf zeitgenössische Sprachen. Sie wird als musikalisch beschrieben, arbeitete als Übersetzerin. Die Eltern ließen ihren Sohn zuhause unterrichten – natürlich auch in Sprachen und Literatur. Das Interesse des Sohnes für Sprachen kam also keineswegs aus heiterem Himmel. Früh begann der Junge, erste eigene Gedichte zu schreiben. Später schickte ihn sein gerade in den Adelsstand erhobener Vater aufs Marineinternat in Sankt Petersburg, wo er, weil ihm das Lernen leicht fiel, „jahrelang die Zeit totschlug“, wie er später selbst einmal eingestand.
Nach dem Abschluss, bei der ersten Ausfahrt als Matrose in Richtung Skandinavien, wird schnell klar, dass sich der dauernd seekranke Dal kaum zum Matrosen eignet. Dafür trägt er schon während seiner Lehrzeit zur See Material für sein erstes kleines Wörterbuch zusammen: 34 Begriffe aus dem damals gängigen Kadetten-Slang. Bis 1826 dient er noch mehr schlecht als recht in Nikolajew, wo er sich mit seinen Gedichten einen besseren Ruf verschaffen kann denn als Mann der Marine.
Ein Arzt für den Krieg, ein Arzt für Puschkin
Wladimir Dal bricht mehrmals in seinem Leben mit einer begonnenen Karriere. So geht er nun an die angesehene Universität in Derpt (heute Tartu in Estland) und wird Arzt. Sowohl Studium als auch Praxis gelingen ihm gut. Äußerst anerkennend äußert sich sogar der berühmte russische Chirurg Nikolai Pirogow, der Mitbegründer der Feldchirurgie, über den jungen Dal:
„Was er sich nicht alles vornahm, alles konnte er sich aneignen. Er verschrieb sich der Chirurgie und wurde, indem er mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit über viele Fähigkeiten in den mechanischen Arbeiten verfügte, bald zu einem geübten Chirurgen.“
Dal hat Erfolg und genießt die Studienjahre. Dann bricht 1829 der Türkisch-Russische Krieg aus und er wird als Armeearzt an die Front auf den Balkan geschickt. Aber selbst dort, wo er oft bis zur Erschöpfung operierte, fand er - wie zuvor neben dem Studium und auch später als Oberarzt im Sankt Petersburger Militärhospital - stets Zeit, ihm unbekannt oder interessant erscheinende Wörter und Redewendungen von Soldaten aus anderen russischen Regionen aufzuschreiben.
Seine Sammlung „Russische Märchen“, die er 1832 als „Lugansker Kosake“ veröffentlicht, bringt ihm dann jedoch gleich zweierlei schicksalhafte Ereignisse ein: Einerseits lernt er den berühmten Dichter Alexander Puschkin persönlich kennen, der Dals Interesse und Gewissenhaftigkeit bei der Sammlung volkstümlicher Redensarten und Ausdrücke sehr zu schätzen weiß. Er ist es dann wohl auch, der Dals Idee eines umfassenden Wörterbuchs des gesamten Spektrums der russischen Sprache unterstützt. Gleichzeitig aber wird auch die Politik auf Dals "Nebenbeschäftigung" aufmerksam und befindet, dass diese schlichten Erzählungen in ihrer Einfachheit und Volkssprache die Regierung verhöhnten. Dal wird daraufhin festgenommen und zweitweise inhaftiert. Seine großen Verdienste in der russischen Medizin sollten ihn hier nicht zum letzten Mal vor ernsthaften Strafen retten.
Dal geht ins südrussische Orenburg, bekommt eine Beamtenstelle beim Gouverneur. Von dort aus begleitet er Puschkin oft bei Reisen in die Provinz. Er notiert Wörter, Redewendungen, Sagen und Märchen, von denen er einige Skizzen dann auch Puschkin schickt. Dieser wiederum verarbeitet jene dann zu seinen „eigenen“ berühmten Märchen.
1837 erfährt Dal auf einer Dienstreise mit dem Orenburger Gouverneur nach Sankt Petersburg zufällig, dass Puschkin schwer verletzt im Sterben liegt. Der Hausarzt überlässt den Patienten gern dem angesehenen Arzt Dal, der bis zur letzten Minute an Puschkins Bett wachen sollte.
Fünf Jahre später kehrt Dal in die Hauptstadt zurück, er wird „rechte Hand“ des Innenministers. Von 9 bis 15 Uhr leistet er seinen Beamtendienst, am Abend beschäftigt er eine ganze Gruppe Helfer damit, Wörter und Wendungen aus den Regionen zu sammeln, zu erklären und nach einzelnen Gouvernements zu ordnen. Bis wieder die Politiker auf Dals wunderliche Nebenbeschäftigung aufmerksam werden und ihn der Minister vor die Wahl stellt: Dienst oder Sprache?
Dal entscheidet sich - und zieht in die reiche Handelsstadt Nischnij Nowgorod an der Wolga, wo er die kommenden zehn Jahre keinen einzelnen Jahrmarkt verpassen und weiter die Sprache der Dörfer und Kleinstädte sammeln sollte. Er verbindet Ausdrücke und Phrasen und veröffentlicht erste Auszüge aus seinem künftigen Werk in Zeitungen. Vom Bildungsministerium bis hin zum Zaren selbst kommt Kritik. Das einfache Volk rede viel dummes Zeug und „eine solche Sammlung ist nicht ungefährlich“, räumt Dal dann auch selbst ein. Dennoch veröffentlicht er sein Redensart-Heftchen mit „Volksweisheiten“ dieser Art:
„Von hinten ist der Zar nicht zu sehen.“
„Wer die Gesetze schreibt, der bricht sie auch.“
„Die Wahrheit zu sprechen, heißt, niemandem Recht zu tun.“
Auf der Erstausgabe stand außerdem:
„Redensart ist nicht strafbar.“
Für letzteres retten ihn einmal mehr seine „Verdienste am Vaterland“ als Mediziner und Zar Alexander I., so heißt es, bewahrt ihn persönlich vor einer Strafe.
Aber hier ist dennoch genug: Dal quittiert seinen Dienst, geht nach Moskau und widmet sich ab 1859 völlig seinem Lebenswerk. Sieben Jahre später erscheint es: das "Bedeutungswörterbuch der lebendigen großrussischen Sprache" - 50 Jahre Arbeit, 200.000 Wörter in vier Bänden.
Am 22. September 1872 schreibt Iwan Turgenjew in einem kleinen Nekrolog über seinen einstigen Vorgesetzten Dal:
„Exegi monumentum“ - deutsch: „Ich habe Großes vollbracht.“
Während Wörterbücher zumeist - damals wie heute - schon an ihrem Erscheinungsdatum veraltet sind, weil sich die Sprache ja gleichzeitig weiterentwickelt, ist „der Dal“ bis heute ein gefragtes und gebrauchtes Werk für Schüler, Sprachwissenschaftler und all diejenigen, die mit der russischen Sprache arbeiten, allen voran natürlich für Dichter und Schriftsteller. Zu Dals Geburtstag am 22. Dezember wird in Russland bis heute der Tag der Sprachlichkeit bzw. Tag des Wörterbuchs begangen. Natürlich entstand in Dals Heimatstadt Lugansk ein Museum des großen russischen Lexikografen, aber auch das Moskauer Staatliche Literaturmuseum trägt seinen Namen.
Lesen Sie hier weiter über Dals wohl besten und wichtigsten Freund und Russlands "literarisches Alles": Alexander Puschkin!